Europawahlen / Sorge vor einem Rechtsruck
Nachdem die ersten EU-Staaten in den vergangenen Tagen bereits mit den Wahlen begonnen haben, werden in den meisten Mitgliedstaaten erst am Sonntag die Wahlbüros öffnen. Erste Ergebnisse wird es erst ab 23.00 Uhr geben. Die Begeisterung für die Europawahlen hält sich bei der Wählerschaft in Grenzen, auch wenn versucht wird, die Wahlen und den Wahlkampf attraktiver zu gestalten, etwa mit Spitzenkandidaten. Vielleicht aber könnte die Sorge vor einem angekündigten Rechtsruck die Wähler zu den Urnen treiben.
Nicht nur in Luxemburg dürfte der Europawahlkampf unspektakulär verlaufen sein. Denn einen eigentlich europäischen Wahlkampf gibt es nicht, daran hat auch das 2014 eingeführte System der Spitzenkandidaten nichts geändert. So bleibt es dabei, dass nach wie vor 27 nationale Wahlkämpfe zu den Europawahlen geführt werden und die Abstimmungen in den Mitgliedstaaten auch schon mal dazu genutzt werden, die jeweilige Regierung abzustrafen.
Da es keinen gemeinsamen Wahlkampf gibt, fehlt es auch an einer gemeinsamen Wahlkampfdebatte. Zwar dürfte in vielen EU-Staaten über die gleichen Themen wie die Migration und den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel und die damit verbundenen Fragen der Energieversorgung sowie des Umweltschutzes gestritten und debattiert worden sein. Doch mangels einer gemeinsamen Plattform bleibt es bei nationalen Debatten. Selbst die von der Europäischen Rundfunkunion organisierte Übertragung der Diskussionsrunde zwischen den Spitzenkandidaten der Fraktionen im EU-Parlament dürfte nur eine Minderheit gesehen haben.
Länderübergreifend wird sich jedoch zumindest die Frage gestellt, ob die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten bis Rechtsextremen eingeht, wie es ihre in letzter Zeit demonstrierte Nähe zur italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia vermuten lässt (siehe auch Forum S. 17). Die Sorge vor einem Rechtsruck bei den Wahlen ist groß. Denn es wird befürchtet, und Umfragen in den ausschlaggebenden EU-Staaten deuten darauf hin, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien die großen Gewinner der Europawahlen sein könnten.
Im Europäischen Parlament gibt es zwei Fraktionen, die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und die Fraktion Identität und Demokratie (ID), die sich rechts der Europäischen Volkspartei (EVP), der auch die luxemburgische CSV angehört, bewegen. Dass die beiden nach der Wahl fusionieren, gilt als ausgeschlossen. Zwar gibt es politisch immer wieder Schnittmengen zwischen den beiden, doch unterscheiden sie sich zu sehr in Sachen Ideologie und vor allem politische Interessen. In einer losen Zusammenarbeit im EP hingegen könnten sie ein nicht zu vernachlässigender Machtfaktor werden. Bereits jetzt könnten sie gemeinsam zahlenmäßig mit der zweitstärksten Fraktion im EP, den Sozialdemokraten, quasi gleichziehen. Sollten die Sozialdemokraten bei den Wahlen Einbußen hinnehmen und die Rechtspopulisten und Rechtsextremen wie prognostiziert zulegen, dürfte das durchaus Auswirkungen auf die künftige Arbeit im EU-Parlament haben.
Bleibt Nicolas Schmit in Brüssel?
Wie bei den beiden vorigen Wahlen haben die großen europäischen Parteienfamilien auch dieses Mal wieder sogenannte Spitzenkandidaten aufgestellt. Die vor den Wahlen 2014 aufgebrachte Idee sollte unter anderem die Europawahlen attraktiver machen und den seit Beginn der Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 beobachteten Trend einer stets sinkenden Wahlbeteiligung stoppen und umkehren. Was allerdings erst 2019 gelang. Das System sieht vor, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion nach den Wahlen quasi ein Vorrecht auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten hat. Unter der Einschränkung allerdings, dass der Spitzenkandidat auch eine Mehrheit im EP findet, denn die EU-Parlamentarier müssen der Ernennung des EU-Kommissionspräsidenten zustimmen. Die EU-Staats- und Regierungschefs sind nicht sehr angetan von diesem System, da es nur ihnen gemäß den europäischen Verträgen zusteht, den EU-Kommissionspräsidenten zu ernennen.
2014 wurde das System noch eher reibungslos angewandt: Die EVP wurde stärkste Fraktion, ihr Spitzenkandidat, der ehemalige luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, erhielt die Zustimmung der EU-Staats- und Regierungschefs – außer vom damaligen britischen Premierminister David Cameron, dem Juncker zu integrationsfreudig war – und im EP sorgte der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten (S&D), Martin Schulz, für eine Mehrheit, wofür er im Gegenzug EP-Präsident bleiben durfte.
2019 hingegen kam es anders. Zwar wurde die EVP wieder stärkste Fraktion im EP, doch ihr Spitzenkandidat Manfred Weber schaffte es nicht, eine Mehrheit im EU-Parlament hinter sich zu versammeln. Die Uneinigkeit nutzten die EU-Staats- und Regierungschefs und schlugen die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als neue EU-Kommissionspräsidentin vor. Weber ging leer aus, doch sein unterlegener Konkurrent und S&D-Spitzenkandidat, der Niederländer Frans Timmermans, wurde mit dem Posten eines Vizepräsidenten in der EU-Kommission bedacht.
Wechselnde Abgeordnetenzahlen im EU-Parlament
Als vor fünf Jahren die Parlamentswahlen abgehalten wurden, war es ausgerechnet Großbritannien, das, gemeinsam mit den Niederlanden, als eines der ersten der damals noch 28 EU-Staaten die mehrtägige Abstimmungsrunde begann. Denn die britische Regierung unter dem damaligen Premierminister Boris Johnson hatte es versäumt, den Brexit rechtzeitig zu vollziehen. Erst zum Jahresende 2019 schied Großbritannien aus der EU. Daher wurden im Mai 2019 noch einmal insgesamt 751 EU-Parlamentarier bestimmt. Nach dem Ausscheiden der Briten aus der EU wurde die Mitgliederzahl des Europäischen Parlaments (EP) jedoch nicht einfach um die Anzahl der britischen EP-Abgeordneten reduziert. Bereits vorher wurde beschlossen, dass nach dem Brexit 14 EU-Staaten zusätzliche EU-Parlamentarier erhalten sollten. Demnach schieden 73 britische EP-Abgeordnete aus und 27 neue, bereits im Mai 2019 gewählte EU-Parlamentarier traten mit dem 1. Januar 2020 ihr Amt an, womit das EP bis heute 705 Mitglieder zählte. Mit der jetzigen Wahl hingegen wird das EP um weitere 15 auf insgesamt 720 Mitglieder aufgestockt, da noch einmal zwölf EU-Staaten zusätzliche Abgeordnete nach Straßburg entsenden können. (gk)
Im Gegensatz zu 2019 dürfte, wie vorgesehen, das System wieder funktionieren. Denn vermutlich wird die EVP wieder stärkste Fraktion und ihre Spitzenkandidatin, die amtierende Kommissionschefin Ursula von der Leyen, bleibt im Amt. Zwar meinte der luxemburgische Spitzenkandidat der S&D-Fraktion, Nicolas Schmit, in einem Gespräch mit dem Tageblatt, es sei „nicht unmöglich“, dass seine S&D stärkste Fraktion werden könnte. Die Wahrscheinlichkeit hingegen ist überschaubar gering. Dass die S&D-Fraktion für ihren Spitzenkandidaten Nicolas Schmit dennoch einen bedeutenden Posten in der EU-Kommission aushandeln könnte, ist nicht ausgeschlossen. Das zeigt das Beispiel des 2019 unterlegenen Frans Timmermans. Auch wenn dessen Arbeiterpartei nicht der niederländischen Regierung angehörte, bestand Premierminister Mark Rutte nicht darauf, einen Vertreter von den Koalitionsparteien für die Kommission zu ernennen, sondern beließ Timmermans in Brüssel. Ob das von der luxemburgischen Regierung ähnlich gehandhabt wird, dürfte sich in den kommenden Wochen zeigen. Denn die CSV-DP-Regierung hat den CSV-Politiker Christophe Hansen für den Posten des künftigen luxemburgischen EU-Kommissars vorgesehen.
Noch keine transnationalen Listen
Um die Europawahlen und damit auch den EU-Wahlkampf noch attraktiver zu machen, wird seit Jahren zudem die Einführung von transnationalen Listen diskutiert. Einem entsprechenden Vorschlag des EP leistete der Rat der EU-Staaten jedoch keine Folge, auch wenn unter den 27 die Idee zunehmend auf Zustimmung stößt. Auf diesen gesamteuropäischen Listen würden die europäischen Parteifamilien jeweils einen Kandidaten aus allen EU-Staaten sowie ihren Spitzenkandidaten ins Rennen schicken. Damit sollten in keinem Fall die nationalen Listen abgeschafft, sondern lediglich eine Art Zweitstimme eingeführt werden. Hauptzweck der Liste sollte es jedoch sein, die politische Debatte auf eine europäische Ebene zu heben, um so einen europäischen Wahlkampf zu führen. Da die Einführung transnationaler Listen zumindest eine weitgehende Wahlrechtsreform erfordert, der alle EU-Staaten zustimmen müssten, dürfte vermutlich auch bei den nächsten Wahlen nicht mit dieser, den Europawahlkampf belebenden Innovation zu rechnen sein.
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