Filmwelt / Zur Preisverleihung in Venedig: Wer bei den Filmfestspielen abräumte
In Venedig waren am Samstagabend die Löwen los: 21 Filme, die im Rahmen des Hauptwettbewerbs gezeigt wurden, galt es für die Jury zu sichten und kritisch zu bewerten. Die 81. Ausgabe des Festivals endete tränenreich und mit einer Überraschung. Schlaglichter auf die Preisgewinner.
Die 81. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig ist am vergangenen Samstag zu Ende gegangen und nach elf lebhaften und sehr warmen Tagen am Lido kam auch die Fachjury zu einem Urteil. Die Jury stand dieses Jahr unter dem Vorsitz von Schauspielerin Isabelle Huppert und wurde aus den Mitgliedern James Gray, Andrew Haigh, Agnieszka Holland, Kleber Mendonça Filho, Abderrahmane Sissako, Giuseppe Tornatore, Julia von Heinz und Zhang Ziyi zusammengesetzt. Für sie galt es zu entscheiden, welche Filme unter diesen sehr diversen Werken ausgezeichnet werden sollen.
Kidman überholt Jolie
Die Verleihung der Volpi-Trophäe für die beste Schauspielerin an Nicole Kidman dürfte zunächst kaum überraschen. Ihre furchtlose Leistung in „Babygirl“ wird ihren Aufstieg im Oscar-Rennen nur weiter befeuern. In einer emotionalen Rede, die von ihrer Regisseurin Halina Reijn gehalten wurde, teilte Kidman mit, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter in dieser Woche nach Australien gereist war und daher ihren Preis nicht persönlich entgegennehmen konnte. Kidman galt bereits zur Festivalhälfte als eine große Favoritin auf den begehrten Schauspielpreis. Angelina Jolie als Maria Callas in Pablo Larraíns Biopic galt ihr da einzig als Konkurrentin. Kidmans Auszeichnung ist insofern bedeutsam, als sie die zweite Facette ihrer Schauspielkunst ehrt.
Kidman machte sich in Hollywood besonders einen Namen als eine Darstellerin der resoluten und selbstbestimmten Frauenfiguren in Filmen wie „Portrait of a Lady“ (1996), „Cold Mountain“ (2003) oder noch „Australia“ (2008). Daneben zeichnete sie sich aber auch für ihre Darstellung von überaus unnahbaren, kühlen Frauentypen aus: Es war Großmeister Stanley Kubrick, der dieses Talent erkannte und mit „Eyes Wide Shut“ (1999) besonders förderte. Auch in Giorgios Lanthimos sehr beklemmenden „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) überzeugte sie mit einer ebenso distanzierten wie befremdlich-apathischen Darstellung, die an den antitheatralischen Stil eines Rainer Werner Fassbinders erinnert. Dieser Tendenz sieht sie sich auch in „Babygirl“ verpflichtet: Die von ihr verkörperte Romy ist eine ganz zwielichtige, unsympathische Figur: Um ihre unbefriedigten sexuellen Gelüste frei ausleben zu können, riskiert sie nicht nur ihr Familienglück, sie belügt und manipuliert jeden um sich herum.
Es ist ein Film um Macht, um deren Zu- und Abnahme, um deren Verschiebung. Entsprechend dominiert Nicole Kidman in eindringlichen Szenen ihren Praktikanten Samuel (Harris Dickinson), den sie zu ihrem Objekt der Begierde macht, zeigt sich dann aber ebenso unterwürfig beim devianten Liebesspiel. Nie ist in ihrer Mimik wirklich zu lesen, was sie bewegt, ob sie die Unterwürfigkeit nur behauptet, ob ihre Reue aufrichtig ist, oder ob sie doch am Ende zur Aufrechterhaltung des Scheins und des Einflusses alle Fäden in der Hand hält. Dass ihr eigenes Körperbild, das besonders durch ihre gebotoxte Erscheinung auffällt, in diesem Film selbstironisch und offen mitgeführt wird, lässt auch an ein schauspielerisches Selbstbekenntnis denken.
Ausgezeichnete Stille
Der Große Preis der Jury ging an „Vermiglio“ von Maura Delpero. Die italienische Filmemacherin beweist mit ihrem zweiten Spielfilm, dass schöne Filmkunst ganz in der Zurücknahme liegen kann, ohne Gefühlsbetonung, ohne besondere Dramatik. Vermiglio ist der Name eines abgelegenen Bergdorfes in den italienischen Alpen, der vom Zweiten Weltkrieg wie unberührt scheint. Zumindest bis Pietro einkehrt, ein sizilianischer Soldat, ein Fremder, der im Bergdorf nun als Held gefeiert wird. Als er die Aufmerksamkeit von Lucia (Martina Scrinzi) gewinnt, der ältesten Tochter des strengen Dorfschullehrers (Tommaso Ragno), verlieben die beiden sich schnell ineinander.
Zunächst beschaut Delpero diese einfache Verbindung zweier junger Herzen ohne Kommentar, doch schon bald setzt sie ein dunkles Geflecht frei aus tief sitzender Frauenfeindlichkeit, Intoleranz und Engstirnigkeit, die tragische Einsichten ans Licht bringen. Es ist der Ausdruck einer Zeit, die von fixen Rollenbildern und Kriegszerrüttung geprägt ist. „Vermiglio“ ist überaus bewegend erzählt, nicht so sehr über den Dialog, vielmehr über Gesten und feine Mimik, denn Delpero versteht es überaus gut, die Stille zu inszenieren, die Pausen und Leerstellen dort zu fokussieren, wo andere mit Theatralik und großem Affekt operieren würden.
Letztlich ist es eine Geschichte über Frauen, die in alten traditionellen Rollen gefangen sind und die Last der Fehler der Männer tragen müssen, ohne selbst etwas dagegen tun zu können. Ein Film, der zeigt, dass eindringliches Kino keiner großen dramatischen Wendepunkte bedarf, keiner Larmoyanz, keiner großen Gefühlsausbrüche. Es ist ein schöner Film, der schöne Bilder zeigt – die Absenz von gefühlsbetonter Dramatik und die scheinbare Kunstlosigkeit in diesem Alltagsporträt ist Delperos Kunst.
„Brutaler“ Erfolg
Der Silberne Löwe für die beste Regie erhielt Brady Corbet für seinen Festivalerfolg „The Brutalist“, dem weithin vorausgesagt wurde, dass er den Goldenen Löwen für den besten Film erhalten würde. Sicherlich ist Brady Corbets 70-mm-Mammutfilm mit seiner fast vierstündigen Laufzeit ein großer und bildgewaltiger Beitrag im Festival, dessen Erzählung einige Parallelen zu dem Filmemacher zulässt, der nun mit diesem dritten außergewöhnlichen Film als ein Wunderkind des amerikanischen Films gehandelt wird. In „The Brutalist“ geht es um einen ungarisch-jüdischen Architekten László Tóth (Adrien Brody), der die Shoah überlebt und in die USA emigriert, um sich dort einem ambitionierten Bauprojekt zu verschreiben, dafür aber seine Seele an den zwielichtigen Tycoon van Buren (Guy Pearce) verkauft.
Corbet bezeichnet gerade diesen Film als ein Herzensprojekt, sieben Jahre in der Entstehung – ähnlich wie sein strauchelnder, aber aufsteigender Tóth, ist Corbet nun als vielversprechender Nachwuchskünstler in aller Munde. Corbet machte aus seine Dankesrede bei der Preisverleihung vielmehr ein Plädoyer für die Filmkunst als ein wirksames und gesellschaftsprägendes Ereignis.
Und wer erhielt Gold?
Die große Überraschung des Abends war mithin die Verleihung des Goldenen Löwen an „The Room Next Door“. Der erste englischsprachige Film von Pedro Almodóvar zeichnet sich durch die herausragenden Leistungen der Stars Julianne Moore und Tilda Swinton aus. Die Auszeichnung mit dem Hauptpreis ist eine ehrfurchtsvolle Verneigung vor diesem großen spanischen Filmkünstler der Gegenwart, dessen Gesamtwerk nun 23 Filme umfasst. „The Room Next Door“ ist ein bedächtiger Film über das Sterben, über die Rückschau, die verpassten Chancen im Leben – auch aber ist es ein sehr gegenwartsbezogener Film. Spitzen gegen aktuelle Einschränkungen in der sozialen Interaktion und der globalen Klimakrise lässt Almodóvar spielerisch einfließen.
Die jüngsten Filme des Spaniers, in denen die Vergangenheit eine Rolle spielt, können als Almodóvars neue altersbedingte Periode angesehen werden, sodass die Frage durchaus offen ist, welche Themen er noch erforschen wird. Dass der fast 75-jährige Almodóvar in seinem neuen Film Fragen der Mutterschaft, der Lust, der Liebe, der tiefen Verbundenheit verdichtet und sie mit Blick auf den Tod, mit der Angst, dass einem keine Zeit mehr bleibt, rückblickend mit Bedacht verhandelt, erscheint nur folgerichtig.
Dass gerade dieser so lebensbejahende Filmemacher sich nun mit dem Abschied, der Trauer, der Angst vor dem Tod beschäftigt, ist letztlich kaum verwunderlich: Almodóvar ist der Filmautor, der den gleichen Film immer wieder macht, und auch nicht, gerade darin liegt das Spannende an „The Room Next Door“: den Blick zu richten auf die Konstanten, aber auch auf die Variationen. Mit „The Room Next Door“ lässt sich auch auf eine Karriere zurückblicken, ein Film, mit dem nichts verloren geht, aber sehr viel gewonnen wird, da Ereignisse aus der Vergangenheit wieder auftauchen und in dem Zusammenspiel zwischen Julianne Moore und Tilda Swinton wieder aufleben.
Luxemburg im Siegestaumel
Auch Luxemburg sahnte bei den Filmfestspielen in Venedig ab – und zwar in der Kategorie „Venice Immersive“: „Oto’s Planet“, ein Werk von Gwenael François, produziert vom luxemburgischen Skill Lab (Julien Becker) in Zusammenarbeit mit Quebec und Frankreich, wurde mit dem „Venice Immersive Special Jury Prize“ ausgezeichnet; „Ito Meikyu“ von Boris Labbé, Koproduktion von Les Films Fauves (Gilles Chanial und Govinda Van Maele) mit Frankreich, erhielt den „Venice Immersive Grand Prize“. (IS)
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