Esch2022 / This Hard Minett Land: Texte über das Bassin minier, inspiriert von den Songs von Bruce Springsteen
Ich bin seit über 35 Jahren ein großer Fan des „Boss“. Seit jener Nacht von Freitag, dem 14., auf Samstag, den 15. November 1986. Um drei Uhr morgens hörte ich in meinem Auto, einem gebrauchten beigen Mazda 323, auf dem Heimweg vom Café Diva in Esch/Alzette die Sendung Les Nocturnes des französischen Radiosenders RTL. Damals präsentierte der Moderator Georges Lang1 den Zuhörern Bruce Springsteens Intro zu „The River“, das er am 30. September 1985 beim Konzert im Los Angeles Memorial Coliseum im Rahmen der Born in the U.S.A. Tour, benannt nach jener Platte, die ihn zum weltweiten Superstar machte, vorgetragen hatte.
Ich weiß nicht mehr, ob ich am Straßenrand anhielt, um es mir anzuhören, aber dieses Intro, das von der Gitarre begleitet wurde, hat mich überwältigt. Springsteen spricht darin über die konfliktreiche Beziehung zu seinem Vater: „This is uh … when I was growing up, me and my dad used to go at it all the time, over almost anything. But uh, I used to have really long hair, way down past my shoulders. I was 17 or 18 … oh, man, he used to hate it.“ Streitigkeiten, die in solchen Sätzen seines Vaters gipfelten: „Man, I can’t wait till the army gets you. When the army gets you, they’re gonna make a man out of you. They’re gonna cut all that hair off, and they’ll make a man out of you.“ Springsteen, Jahrgang 1949, verbrachte seine freie Zeit lieber mit seinen Freunden. Es war mitten im Vietnamkrieg: „And this was in, I guess, ’68, and there was a lot of guys from the neighborhood going to Vietnam. I remember the drummer in my first band coming over my house with his marine uniform on saying that he was going and that he didn’t know where it was. And a lot of guys went and a lot of guys didn’t come back. And a lot that came back weren’t the same anymore.“ Wie andere junge Männer in seinem Alter auch erhielt er seinen Einberufungsbescheid für die Armee und musste sich der medizinischen Untersuchung (physical) unterziehen. Er verheimlichte dies vor seinen Eltern:
„I hid it from my folks and three days before my physical me and my friends went out and we stayed up all night. And we got on the bus to go that morning, man, and we were all so scared. And I went and I failed. I came home … (Crowd cheers) It’s nothing to applaud about. But I remember coming home after I’d been gone for three days, and walking in the kitchen and my mother and father were sitting there. My dad said, ‚Where you been?‘ I said, uh, ‚I went to take my physical.‘ He says, ‚What happened?‘ I said, ‚They didn’t take me.‘ And he said, ‚That’s good‘.“ (Crowd cheers)
That’s good … Das ist einer der mächtigsten Texte gegen den Krieg, den ich je gehört habe!
Unerwartete Entdeckung
Von jenem Tag an kaufte ich alle LPs und CDs des „Boss“, sogar Bootlegs. Ich beschaffte mir die Ausgaben eines italienischen Fanzines, Follow That Dream, ich habe ihn live gesehen, ein echter Rock ’n’ Roller mit Shows von über drei Stunden Dauer in ausverkauften Stadien! Mit den Kumpels haben wir zu seinen Hits getanzt, viele seiner Lieder kannten wir auswendig. Einige Zitate haben die Freuden und Leiden unseres Lebens begleitet. „We swore blood brothers against the wind“ („No Surrender“). 2016 habe ich seine Autobiografie „Born to Run“ gelesen, in der er auch von seinen persönlichen Höhen und Tiefen erzählt.
Im Mai 2019 besuchte ich mit meiner Frau Matera in Süditalien, damals Kulturhauptstadt Europas. Vali machte mich auf einen kleinen Buchladen aufmerksam, da sie weiß, dass Buchhandlungen für mich in jeder Stadt ein Muss und eine Gelegenheit für unerwartete Entdeckungen sind. Dies war auch diesmal der Fall. Ich stieß auf das 2018 erschienene Buch eines italienischen Schriftstellers über den „Boss“: „Bruce Springsteen. Come un killer nel sole. Testi scelti 1972-2017“ von Leonardo Colombati. Es handelt sich um eine kritische Ausgabe von fast hundert Texten des „Boss“, die in einen Kontext mit der amerikanischen Literatur von Autoren wie Raymond Carver, Jack Kerouac, Flannery O’Connor, John Steinbeck und Walt Whitman, von Liedermachern wie Bob Dylan, Woody Guthrie und Pete Seeger sowie von Filmemachern wie Martin Scorsese gesetzt werden.
Lieder Springsteens, die von der Liebe erzählen, aber auch vom täglichen Überlebenskampf, von der Notwendigkeit und dem Fehlen sozialer Gerechtigkeit, von den Hoffnungen, die mit den politischen Kämpfen einhergehen, die in den USA geführt werden. Ennio Morricone schreibt in seinem Vorwort zu Colombatis Buch: „In seinen Liedern betont Springsteen den Sinn für pietas, den Schmerz und die Menschlichkeit der Charaktere, von denen er erzählt.“ Wie der „Boss“ selbst häufig zum Ausdruck gebracht hat, hat er sein Leben lang die Distanz zwischen der amerikanischen Realität und dem amerikanischen Traum vermessen.
Beim Lesen des Buches wurde mir klar, wie sehr diese Songs von Springsteen, der als Sohn einer italienischstämmigen Mutter und eines irischstämmigen Vaters in der kleinen Industriestadt Freehold in New Jersey geboren wurde und aus der amerikanischen Working Class stammt, von Industriestädten und -regionen wie dem Minett handeln („My Hometown“, „Youngstown“, „Used Cars“). Von harten Lebens- und Arbeitsbedingungen („Jack of All Trades“, „Factory“, „The Ghost of Tom Joad“), von Immigration („Sinaloa Cowboys“, „Matamoros Banks“, „American Land“), von Marginalität („Jungleland“, „Reno“, „Meeting Across the River“, „Balboa Park“, „Nebraska“). Die Figuren in seinen Liedern entstammen oft der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht. Selbst wenn sie zu tragischen Helden werden, inszeniert der „Boss“ sie als Subjekte ihrer Geschichte („The River“, „Born in the USA“, „The New Timer“). In anderen Worten, es wurde mir klar: Dieser Springsteen ist auf seine Weise ein „Minetter“ der USA!
Historisch-literarisches Projekt
In Matera, in dieses Buch über das Werk des „Boss“ versunken, kam mir die Idee, im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres Esch2022 ein historisch-literarisches Projekt mit rund 40 HistorikerInnen und SchriftstellerInnen zu starten: sich vom amerikanischen „Minetter“ Bruce Springsteen zu Texten, Gedichten und Comics auf Deutsch, Englisch, Französisch oder Luxemburgisch inspirieren zu lassen und über das luxemburgisch-lothringische Eisenerzbecken sowie diejenigen zu schreiben, die dort geboren oder dorthin eingewandert sind, dort gelebt, gearbeitet, geliebt, geträumt, gehofft, gekämpft, Erfolg gehabt oder versagt haben. Indem die Autoren und Autorinnen fiktive, „auf wahren Begebenheiten beruhende“ oder reale Geschichten erzählen, die Geschichten der Helden von „This Hard Minett Land“, „struggling to do everything right“ („Brilliant Disguise“), „strugglin’ for a place to stand/for a decent job or a helpin’ hand“ („The Ghost of Tom Joad“).
Nach und nach wurde das Projekt mit der Unterstützung anderer Fans des „Boss“ umgesetzt: meinen Historikerkollegen und -kolleginnen vom C2DH, Dhiraj Sabharwal, dem Chefredakteur des Tageblatt und Rocker mit Leib und Seele, sowie Susanne Jaspers, der Verlagsleiterin von capybarabooks. Als Susanne die Autorinnen und Autoren kontaktierte, traf sie auf den gleichen Enthusiasmus für dieses Unternehmen, das rund um das literarische und musikalische Werk von Bruce Springsteen und eine außergewöhnliche Region, das Minettbecken, konzipiert wurde; eine Region, die Männer und Frauen aus aller Welt durch ihre harte Arbeit geschmiedet haben.
Die folgenden AutorInnen und HistorikerInnen haben sich bereit erklärt, über „my home region“ zu schreiben, ganz im Sinne Bruce Springsteens, „son, take a good look around/this is your … Minett Land“: Jean Back, Ulrike Bail, Baru, Serge Basso de March, Romain Butti, Michel Clees, Anja Di Bartolomeo, Andreas Fickers, Tullio Forgiarini, Claude Frisoni, Piero Galloro, Gast Groeber, Julia Harnoncourt, Guy Helminger, Nico Helminger, Tom Hengen, Jhemp Hoscheit, Susanne Jaspers, Pierre Joris, Francis Kirps, Rafael David Kohn, Jean-Marc Lantz, Marc Limpach, Charles Meder, Roland Meyer, Claudine Muno, Gérard Noiriel, Luciano Pagliarini, Antoine Pohu, Jean Portante, Irene Portas, Jérôme Quiqueret, Anne-Marie Reuter, Daniel Richter, Nathalie Ronvaux, Fatima Rougi, Arnaud Sauer, Jeff Schinker, Denis Scuto, Jens van de Maele, Nora Wagener. Sie werden diese Texte das ganze Jahr 2022 hindurch jeden Freitag im Tageblatt entdecken können. Begleitet werden sie von Zeichnungen des Illustrators Dan Altmann sowie von historischen Fotos, die von diesem vielseitigen Künstler bearbeitet wurden.
Heute geht es jedoch noch nicht um den Minett, sondern die ethischen Grundwerte des „Boss“ selbst stehen im Mittelpunkt des ersten Textes, der die Reihe einleiten wird: ein Essay des Juristen, Schauspielers, Theaterregisseurs und Historikers Marc Limpach über den Song „We Are Alive“ von 2012, den Springsteen als Hommage an die Unterdrückten in der amerikanischen Geschichte geschrieben hat: Streikende, Opfer des Ku-Klux-Klans, Flüchtlinge an der Grenze zu Mexiko.
1 Georges Lang, geboren am 16. November 1947 in Metz, moderierte die Sendung damals von der Villa Louvigny in Luxemburg-Stadt aus. Er lebt noch heute in Luxemburg, auch wenn der französische RTL-Sender seinen Sitz nach Paris verlegt hat. Les Nocturnes werden seit 1973 von ihm moderiert, also seit fast 50 Jahren – ein Rekord.
Zur Person*
Denis Scuto wurde 1964 in Esch/Alzette als Sohn einer luxemburgisch-italienischen Arbeiterfamilie geboren. Er besuchte das Lycée Hubert Clément in Esch und studierte im Anschluss Geschichtswissenschaften in Luxemburg und Brüssel. Von 1989 bis 2003 unterrichtete er Geschichte in Echternach und Esch sowie von 1997 bis 2003 am Iserp. Seit 2003 lehrt und forscht Denis Scuto an der Universität Luxemburg. Seit 2019 ist er Vizedrektor des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH). Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Zuletzt erschienen u.a.: „Une histoire contemporaine du Luxembourg en 70 chroniques“ (C2DH/Fondation Robert Krieps, 2019); „Guide historique et architectural Esch-sur-Alzette“ (zusammen mit G. Buchler, J. Goedert, A. Lorang, A. Reuter, Fotos von C. Weber, capybarabooks, 2020; deutsche Ausgabe 2021). Er schreibt seit 1988 regelmäßig für das Tageblatt, seit 2015 im Rahmen der Samstagschronik zur Zeitgeschichte.
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