Luxemburgensia / Dann wird das Ende kommen: „Das Gangrän“ von Maxime Weber
Düster ist das Szenario, das Maxime Weber in seinem Debütroman „Das Gangrän“ entwirft. Denn plötzlich taucht an verschiedenen Orten auf der Welt ein merkwürdiges Geflecht auf, das dafür sorgt, dass sich Lebewesen in Sekundenschnelle auflösen. Droht der Menschheit nun ihr Untergang? Vielleicht, aber dass man in Konfrontation mit Not und Zerstörung dem Leben auch etwas Gutes abgewinnen kann, lernen Jeanne und ihre Liebsten, als sie sich in einem kleinen Dorf im Norden Luxemburgs zusammenfinden und versuchen, dort füreinander zu sorgen.
Es ist Sommer. Jeanne hat ihr Studium in Kunstgeschichte abgeschlossen und reist in Begleitung mit ihrer Katze Heidi zurück in ihr (fiktives) Heimatdorf Pardange im Norden Luxemburgs. Auf dem Weg nach Hause stolpert sie über einen Beitrag auf Reddit, der sie beunruhigt: Die Rede ist von einem seltsamen Naturphänomen, das in Algerien aufgetreten ist und dort dafür sorgt, dass ganze Olivenplantagen in Windeseile ausgelöscht werden. Die Kulturen würden von einem unbekannten, blauglühenden Geflecht befallen und sich daraufhin wie im Zeitraffer zersetzen. Jeanne ist verstört, versucht aber, die Neuigkeit zu verdrängen. Kurz darauf fluten dann Nachrichten aus Indien das Internet: Auch hier würde das Geflecht, das alsbald auf den Namen „Gangrän“ getauft wird, wüten. Dem Leser dämmert es: Die Welt steuert auf eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes zu.
Das zerstörerische Gewächs breitet sich immer weiter aus, verschlingt Landstreifen, Wälder, Flüsse und Städte. Alles Leben, das mit ihm in Berührung kommt, stirbt. Und auch wenn die Wissenschaft sofort aktiv wird und sich gegen das Unheil zu stellen versucht, wird schnell klar, dass die Menschheit dem Gangrän hilflos ausgeliefert ist. Und nun? Was tut man, wenn man ahnt, dass das Ende bald gekommen ist? Das ist die Frage, die sich Jeanne, ihre Familie und Freunde stellen müssen. Denn weniger als den genauen Verlauf des Weltuntergangs nimmt „Das Gangrän“ das Kleinst-Universum Pardange und die persönlichen Schicksale seiner Einwohnerschaft in den Blick. Dabei wird klar: Sich von der drohenden Apokalypse in die Knie zwingen zu lassen, ist für die Protagonistin keine Option.
Gemeinsames Coming of Age
Aber einen kurzen Schritt zurück: Am Anfang des Romans trifft die gebürtige Pardangerin ihre alte Schulkameraden Caroline und Jean-Paul wieder. Sie halten sich ebenfalls gerade in Luxemburg auf und so kann das Trio das heiße Wetter und die freie Zeit in Gemeinsamkeit genießen. Während beschrieben wird, wie die Tweens ihre Freundschaftsbande stärken, lernt der Leser die Figuren besser kennen. Jeanne übt sich im luziden Träumen, Jean-Paul ist dabei, einen eigenen Film zu drehen, und die abenteuerlustige Caroline, die mit ihrer Band „Ninety Nineteen Heaven“ in Schottland ihr Glück versucht, durchlebt gerade einen zermürbenden familiären Konflikt. Ihre gegenseitige Verbundenheit bietet allen dreien, die sich im entwicklungspsychologischen Limbus zwischen Jugend- und Erwachsenenalter befinden, einen sicheren Hafen.
Auch mit Jeannes Familie schließt der Leser Bekanntschaft. Von Mutter Francine, die sich in ihrer Professur auf Science-Fiction-Literatur spezialisiert hat, bis hin zum Bruder und Medizinstudenten Matthieu sind sie alle ausgestattet mit mindestens einer besonderen Eigenschaft, die später im Roman wieder aufgegriffen wird und mitunter den Gang der Dinge beeinflusst. Gleiches gilt für die zahlreichen Figuren, die im Verlauf der Erzählung dazustoßen.
Homo homini lupus
Als das Gangrän dann schließlich näherrückt und die bevorstehende Notlage zu einer unverrückbaren Tatsache wird, legt die Handlung an Tempo zu und fokussiert auf die doch sehr unterschiedlich ausfallenden Reaktionen der womöglich Todgeweihten. Die zurückhaltende Jeanne stellt mehrmals ihren Mut unter Beweis: Sie begibt sich auf eine abenteuerliche Reise nach Luxemburg-Stadt, um ihre Großeltern zu retten, lehnt sich gegen die „Miniaturautokratie“ auf, die die Pardanger Bürgermeisterin und Supermarktkette-Inhaberin Beatrice Decker mit ihrem Stiefsohn Olivier Lux etabliert, und engagiert sich im frisch gegründeten Bürgerrat.
Im Kontrast zu diesem Entwicklungsweg stehen die schwelende Verzweiflung Jean-Pauls, die Raffgier und das Machtstreben des Decker-Clans und der global aufflammende religiöse Fanatismus. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, zeigt die Erzählung damit ebenso deutlich, wie dass man als Einzelner über sich hinauswachsen kann, wenn man sich aufopferungsvoll um andere kümmert und – wie das Ende zeigt – auch im Angesicht höchster Lebensgefahr an schönen, kraftspendenden Erinnerungen festhält.
Eine Bastion der Solidarität
„Das Gangrän“ liest sich als ein Plädoyer für Zivilcourage, Mitmenschlichkeit und Lebensbejahung – selbst in Zeiten, in denen alle Hoffnung verloren scheint. Also ein hochaktuelles Werk? Auf jeden Fall. Nicht nur was die verhandelten Thematiken angeht, sondern auch hinsichtlich der Botschaft trifft Maxime Weber mit seinem Erstlingswerk genau ins Schwarze. Wie schon der Klappentext darauf hinweist, lassen sich viele Parallelen zwischen dem Text, den der Autor bezeichnenderweise schon 2018 beendete, und der andauernden sanitären Krise ziehen. Mit einem umso zynischeren Lächeln im Gesicht mag man daher die Passagen lesen, in denen geschildert wird, wie das kleine Dorf im Ösling zu einem Ort des idyllischen Zusammenlebens erblüht und als utopisches Gegenbild zur nahenden Weltzerstörung Konturen bildet. Denn leider unterscheidet sich hier die Fiktion schmerzlich von der Aktualität.
Es ist eben das, was man dem Roman vorwerfen könnte: Verschiedene Passagen kommen etwas zu glatt daher und der vertretene Humanismus trägt naiv-idealistische Züge. Andererseits ist es vielleicht genau das, was wir im Moment brauchen. So oder so: Maxime Webers literarisches Debüt ist ein dermaßen spannender, bündig und lebendig geschriebener, von Anfang bis Ende durchdachter und handwerklich überaus gut gemachter Speculative-Fiction-Roman, dass einem etwas entgeht, wenn man ihn nicht liest.
Der Autor
Maxime Weber, Jahrgang 1993, hat Philosophie in München und in Berlin studiert. In der Anthologie „Mord und Totschlag“ (Editions Saint-Paul) wurde 2010 sein Kurzkrimi „Der vierte Affe“ publiziert. Mit seiner Kurzgeschichte „Chaudron fêlé“ gewann er den ersten Preis beim Jugendliteraturwettbewerb „Prix Laurence“, 2018 wurde er für seinen Watchblog „Maxime Weber Blog“ mit dem „Prix René Oppenheimer“ ausgezeichnet. Die Begründung lautete: „Engagement gegen rechtsextreme, intolerante und diskriminierende Tendenzen“. 2020 wurde seine erste englischsprachige Kurzgeschichte „Panima“ in der „Young Voices-Anthologie“ (Black Fountain Press) veröffentlicht. Der Autor hat auch schon eine Vielzahl von Artikeln verfasst, die in luxemburgischen sowie deutschen Medien erschienen sind. „Das Gangrän“ ist sein erster Roman.
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