Lust zu lesen / Was, wenn du auf der Waage kein Gewicht mehr hast? – „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“ von Bastian Schneider
Ein Autor namens Bastian Schneider erhält ein Stipendium, damit er für einige Wochen ungestört an seinem Roman in Istanbul arbeiten kann. Aber nicht nur, dass er nicht wirklich weiß, was er schreiben soll, und denjenigen, die ihn fragen, woran er gerade arbeite, „Ich will ein Buch schreiben, das ich lesen möchte zur Vorbereitung darauf, das Buch erst zu schreiben“, antwortet nein, es lebt auch schon jemand namens Bastian Schneider in seinem Zimmer im Hotel, als er ankommt.
Ein Terrorist, wie sich herausstellt, den die Polizei verhaftet. Wenig später weist jemand den Protagonisten auf einen Artikel in „Lettres internationales“ hin, der mit „Bastian Schneider“ betitelt ist und der Autor gleichen Namens beginnt sich zu fragen, ob er eine Romanfigur ist. Auf dem Buchdeckel des tatsächlich publizierten Romans weist der Verlag darauf hin, dass Bastian Schneider 2017 genau dieses Stipendium in Istanbul bekommen habe, und spätestens ab da fragt sich auch die Leserschaft, was ist hier Wirklichkeit und was Fiktion? Dass der Autor eine gewisse Paranoia in Istanbul angesichts des Erdogan-Regimes entwickelt, ist verständlich, aber steht der undurchsichtige türkische Verleger Orhan Terzi, den er kennenlernt, nicht doch auf seiner Seite? Was hat es mit den Fotos auf sich, die dem Autor heimlich zugeschoben werden, und sind Änderungsschneidereien Horte der Verschwörung?
Während Bastian Schneider sich im ersten Teil des Buches seiner Identität zu vergewissern sucht und die Handlung mehr und mehr zum unlösbaren Krimi wird, fahndet im zweiten Teil der Schneider Flaus Fadnšain, bei dem Bastian Schneider seinen Mantel wegen des Lochs in der Tasche abgegeben hat, nach diesem, weil er das Kleidungsstück nicht mehr abholt. Zudem hat er im Mantel einen Reiseführer gefunden, in dem der Autor das Leben des Flaus Fadnsain skizziert hat, bis zu dem Moment, in dem er den Reiseführer liest und damit seine eigene Geschichte. Ist auch der Änderungsschneider nur eine Romanfigur? Jedenfalls zeigt die öffentliche Waage auf der Galata-Brücke bei ihm kein Gewicht an.
Eine wunderbare Irrfahrt ist dieses Buch und zugleich eine Hommage an Georges Perec und seinen Roman „La disparition“. Die Figur Flaus verschwindet am Ende an dessen Urnengrab auf dem Père-Lachaise in der Obdachlosigkeit. Bereits vorher war der Autor des vorliegenden Romans im Text spurlos verschwunden, genau wie der sichere Untergrund, der normalerweise Literatur und Realität für den Leser trennt.
Bastian Schneider hat einen Roman geschrieben, der die eigenen Grundlagen sabotiert, voller Humor und flinker Einfälle, einen Roman, der die Werkstatt potenzieller Literatur besucht hat und die Möglichkeiten des Erzählens nicht am Plot enden lässt. Das ist spannend, unterhaltend und zugleich Weiterführung einer literarischen Tradition, die zwischen Originärem und bloß Originellem zu unterscheiden weiß. Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche. GuH
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