Lust zu lesen / Jenseits der absolutistischen Ordnung
Lange vor Abenteuerfilmen wie „Der rote Korsar“ oder „Fluch der Karibik“ galten Piraten bereits als Synonym für romantisches Draufgängertum und Unangepasstheit. Dass in Räuberpistolen über Captain Kidd und seine Spießgesellen mehr als nur ein Körnchen Wahrheit stecken könnte, macht nach Ansicht unseres Autors Thomas Koppenhagen einen Text aus dem Nachlass des 2020 verstorbenen Anthropologen David Graeber in Teilen so spannend wie einen Krimi.
Schaut man sich in der Geschichte der Freibeuterei um, so fällt das sogenannte „Goldene Zeitalter der Piraterie“ vor allem wegen deren Kürze ins Auge. Nur ungefähr vierzig Jahre währte jene gloriose Epoche, auf die sich die meisten Seeräubergeschichten beziehen, dann machten britische, niederländische und spanische Seestreitkräfte dem gesetzlosen Treiben auf fast allen sieben Meeren den Garaus. Wer nicht gefangen genommen wurde und am Galgen endete, versuchte sich zu verstecken oder in Regionen auszuweichen, wo die Kontrolle lückenhafter ausfiel, wie beispielsweise in der Karibik. Schon damals grassierten fantastische Märchen über Kisten voller Goldbarren und Geschmeide, die auf abgelegenen Schatzinseln verborgen ihrer Entdeckung harren. Aber auch das Zusammenleben der Piraten an Land und auf See sorgte für Gerüchte, in denen sich die Sehnsüchte von Menschen spiegelten, die unter der Gewaltherrschaft absolutistischer Könige und Herzöge in Europa und anderswo litten. 1728 berichtete ein gewisser Charles Johnson im zweiten Band seiner berühmten „General History of the Pirates“ von einer utopischen Republik namens „Libertalia“, die von Piraten auf Madagaskar gegründet worden sei. Und genau dort setzt David Graeber mit seinem Text „Piraten: Auf der Suche nach der wahren Freiheit“ an. Denn tatsächlich finden sich ungefähr in jenem Gebiet im nordöstlichen Teil von Madagaskar, in dem das sagenumwobene Libertalia gelegen haben soll, Spuren eines Gemeinwesens, das sich bis zum heutigen Tag basisdemokratische Züge bewahrt hat. Ob man diese „Betsimisarako“ (übersetzt: „die vielen, die man nicht trennen kann“) genannte Bevölkerungsgruppe nun „Volk“ in engerem oder erweitertem Sinne nennen kann, ist Teil von Graebers diskursiver Analyse, die sich vor allem auf Textexegese stützt und so häufig wie zwangsläufig sehr kleinteilig ausfällt. Dabei wird leicht der theoretische Ansatz übersehen, der ebenso in Graebers Buch „Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2022) mit David Wengrow als Co-Autor zum Tragen kommt: Jean-Jacque Rousseau, Montesquieu und andere frühe Aufklärer partizipierten an Gedanken, die anderswo längst schon gelebt oder zu leben versucht wurden. Die Aufklärung nahm keineswegs im quasi luftleeren Raum irgendwelcher Pariser Salons ihren Anfang, sondern bei indigenen Stämmen in den Weiten der nordamerikanischen Wald- und Prärielandschaften sowie an der Küste im Nordosten Madagaskars bzw. auf vorgelagerten kleinen Inseln wie Sainte Marie, wo sich die für vogelfrei erklärten Piraten Verstecke bauten und mit der einheimischen Bevölkerung Allianzen eingingen, die allein schon aus machtstrategischen Gründen für alle vorteilhaft sein mussten. Ob sich daraus wirklich ein proto-demokratisches Gesellschaftsmodell entwickelt hat, bleibt Annahme. Dass man sie nicht einfach als Hirngespinst abtun kann, ist Graebers Vorgehensweise gedankt. Akribisch baut er eine Genealogie auf, die sich lose um den Volkshelden Ratsimilaho (inklusive einheimischer Mutter plus Piratenvater) gruppiert und an keiner Stelle Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Nichtsdestotrotz argumentiert er derart hieb- und stichfest (um im Piraten-Bild zu bleiben), dass sein „kleines Experiment in Sachen Geschichtsschreibung“ es mühelos mit den bislang vorliegenden historischen Erzählungen zum Thema aufnehmen kann.
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