Klangwelten / Feist & Silver Moth: Wie im Schnellkochtopf
Die kanadische Künstlerin Leslie Feist hat eine prägende Zeit hinter sich. Ende 2019 erfuhr sie davon, dass das Kind, das sie zu adoptieren plante, geboren wurde. Ein neuer Lebensabschnitt brach für sie an: der als alleinerziehende Mutter. Wegen des Ausbruchs der Corona-Pandemie wollte sie den Fokus ganz auf ihre Tochter Tihui legen. Doch dann machte sie bei einem von Justin Vernon (Bon Iver) und Aaron und Bryce Dessner (The National) initiierten Projekt mit, bei dem jeder Beteiligte pro Tag einen Song schreiben und bis Mitternacht einsenden musste. „Manchmal war es die Schande, etwas Unfertiges abzuschicken. An manchen Tagen konnte ich die Dinge vollständig ausarbeiten, an anderen Tagen war es ein Schlaflied, das ich meinem Mädchen vorsang“, umschreibt Feist diese Erfahrung.
Aus diesem Songmaterial wurde „Multitides“ (8 Punkte), ihr erstes Album seit „Pleasure“ (2017). Im Frühjahr 2021 verstarb allerdings unerwartet ihr Vater Harold, ein expressionistischer Maler, weshalb das Album nicht nur von Mutterschaft, sondern auch von Verlust handelt. Als frischgebackene Mutter hatte sie auch weniger Zeit fürs Komponieren und Texten als früher. Sie musste sich besser organisieren; ihr Songwriting veränderte sich. Sie interessierte sich zudem für Wiegenlieder und den beruhigenden Mechanismus der Wiederholung. Inspirieren ließ sie sich beispielsweise von klassischer argentinischer und haitianischer Gitarrenmusik und den Liedern und Gedichten der 1993 verstorbenen Britin Molly Drake. Das führte zu einem nachdenklichen Album, das eindeutig Feists Handschrift trägt und in „Song For A Sad Friend“ einen tollen Abschluss findet, der einem etwas Trost und Wärme mit auf den Weg gibt.
„Song For A Sad Friend“ ist der Gegenpart zu dem lauten, quirligen Auftakt „In Lightning“, dessen Avantgarde-Touch an Björk erinnert. So energisch wird sie dazwischen höchstens noch in „I Took All Of My Rings Off“ und dem mitreißenden „Borrow Trouble“, in dem Feists Gefühlswelt gegen Ende explodiert. Ansonsten überwiegen ruhige Lieder, deren Säulen ihre dahingehauchte Stimme und die Akustikgitarre sind und die sie u.a. mit zwei alten kanadischen Bekannten aufgenommen hat: Dominic Salole alias Mocky und Jason Charles Beck alias Gonzales.
Die Insel Lewis And Harris ist eine Landmasse vor der Nordwestküste Schottlands. Der südliche Teil wird Harris und der nördliche Lewis genannt. Und eben jener Inselteil Lewis war das Thema einer Konversation zwischen Abrasive-Trees-Gitarrist Matthew Rochford und der Musikerin/Sängerin Elisabeth Elektra. Obwohl sie sich teils nicht näher kannten, fuhren sie zusammen mit Elektras Ehemann Stuart Braithwaite (Gitarrist bei Mogwai), dem Gitarristen Steven Hill, dem Cellisten Ben Roberts (beide Abrasive Trees), der Singer-Songwriterin Evi Vine sowie dem Grafikdesigner und Burning-House-Schlagzeuger Ash Babb in ein Studio in den Äußeren Hebriden, unweit der Insel Lewis. Dort entstanden in nur vier Tagen die sechs Songs ihres Debütalbums „Black Bay“ (9 Punkte), das unter dem Projektnamen Silver Moth erschienen ist.
Produzent Pete Fletcher, laut Elektra der „Magier, der alles zusammengefügt hat“, gelang es, innerhalb der Songs genügend Freiraum zu schaffen, damit sich die vielen Klangschichten, die von Gitarren, flächigen Synthesizern und Cello bestimmt werden, entfalten können. Die Songs sind sphärisch und hypnotisch und verweisen auf Portishead, Talk Talk, The God Machine und Spacemen 3. Zwei Stücke sind besonders hervorzuheben: einerseits „Mother Tongue“, so etwas wie der Hit dieses Albums. Er stammt aus der Feder von Elektra und Vine und hat die Gleichberechtigung der Frauen zum Thema. Der intensive Song mäandert wie ein wilder, unkontrolliert erscheinender Jam vor sich hin, während Elektra und Vine „We were warriors“ singen. Ein Meisterwerk. Der zweite ist die mit Naturklängen untermalte Spoken-Word-Performance „Gaelic Psalms“, ein Gedicht des verstorbenen schottischen Schriftstellers Gerard Rochford, das von seinem Sohn Matthew vorgetragen wird.
„Black Bay“ ist ein einzigartiges Debüt geworden, das laut Elektra Anfang 2021 unter ganz besonderen Umständen in den namensgebenden Black Bay Studios zustande kam: „Da wir uns vorher nicht kannten, gingen wir in einen wirklich intensiven kreativen Modus über, als wir dort ankamen. Wir befanden uns in einer Blase, und es gab eine Menge kollektiven Kummer. Es war wie im Schnellkochtopf. Aber ich denke, es ist etwas wirklich Schönes dabei herausgekommen.“ Wer ein Faible für die obengenannten Bands hat, dürfte dem nicht widersprechen können.
(Kai Florian Becker)
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