Sitzverteilung in der Chamber / Wenn jeder Wahlzettel zählt
Am Sonntag werden die Mandate in den vier Wahlbezirken wieder nach einer klaren Rechenformel vergeben. Doch gerade bei der Verteilung der Restsitze kann es zu sehr knappen Entscheidungen kommen – mit großem Einfluss auf die Zusammensetzung der Chamber. Ein Rückblick auf die engsten Rennen bei der Parlamentswahl 2018. Und ein paar Prognosen, wie es 2023 laufen könnte.
Die Wahl zur Abgeordnetenkammer am kommenden Sonntag verspricht spannend zu werden. Können DP, LSAP und „déi gréng“ ihre Mehrheit in der Chamber halten? Oder wird die CSV die Verhältnisse kippen? Wie spannend der Wahlabend und die folgenden Tage tatsächlich werden könnten, verrät ein Blick auf den Rechenmodus hinter der Vergabe der Sitze. Bei der vergangenen Wahl im Oktober 2018 kam es besonders bei der Vergabe der Restsitze in den vier Wahlbezirken zu teilweise sehr knappen Entscheidungen zwischen den Parteien. Aus diesem Grund hat das Tageblatt nachgerechnet. Das Ergebnis: Jeder Zettel zählt, wenn es um die Mehrheit in der Chamber geht.
So werden die Sitze verteilt
Ausgangspunkt der Rechnung zur Vergabe der Sitze im Parlament ist die Zahl der im Bezirk abgegebenen gültigen Gesamtstimmen („Nombre total des suffrages valables de toutes les listes“). Diese wird durch die Zahl der zu vergebenen Mandate plus eins geteilt. Das ergibt den sogenannten Wahlquotienten („Nombre électoral“). Mithilfe des Wahlquotienten wird für jede Partei ein weiterer Quotient ausgerechnet, in dem die Gesamtstimmenzahl der Partei („Suffrages nominatifs“ und „Suffrages de liste“) durch den Wahlquotienten geteilt wird. Der Zahlenwert vor dem Komma ergibt die Anzahl der Sitze, die diese Partei gewinnt. Das ist die erste Verteilung.
In den meisten Fällen bleiben nach diesem Prozedere jedoch noch Restplätze übrig, die in weiteren Runden vergeben werden müssen. Dafür wird die Gesamtstimmenzahl aller Parteien durch die Zahl ihrer bereits gewonnenen Sitze plus eins geteilt. Diese neuen Quotienten werden dann miteinander verglichen. Der höchste Wert gewinnt und erhält den Sitz. Das ist die zweite Verteilung. Sind mehr als ein Restsitz zu vergeben, startet dieser Rechenschritt erneut – mit dem Unterschied, dass sich beim Gewinner der letzten Runde die Zahl der Sitze um eins erhöht. Die Rechnung wird so lange wiederholt, bis alle Sitze verteilt sind.
Norden
Im relativ dünn besiedelten Norden werden insgesamt neun Mandate vergeben. Bei der vergangenen Parlamentswahl holte die CSV vier Sitze, die DP zwei, LSAP, ADR und „déi gréng“ jeweils einen. Jeff Gangler, Bezirkspräsident der LSAP im Norden, hat für die Wahl am Sonntag angekündigt, dass seine Partei „zwei Sitze und mehr“ holen möchte. Das zweite Mandat im Norden hatte die LSAP 2018 verloren. Und das tatsächlich denkbar knapp.
Insgesamt sechs Sitze konnten damals in der ersten Verteilung den Parteien zugesprochen werden: drei für die CSV, jeweils einen für DP, LSAP und „déi gréng“. Die drei übrigen Restplätze wurden in drei weiteren Verteilungen vergeben (s. Beispielrechnung). Den siebten Sitz sicherte sich die ADR deutlich mit einem Quotienten von 33.751. Der achte Sitz ging an die DP mit 29.519. Den neunten und letzten Sitz gewann die CSV mit 27.766,75. Die Christsozialen schlugen die LSAP knapp um einen Wert von 451. Das bedeutet: Hätte die LSAP im Norden 902 Stimmen mehr geholt, wäre der neunte Sitz an die Sozialisten gegangen und nicht an die CSV. Gerade einmal etwa 100 Wähler, vorausgesetzt sie wählen die Liste der LSAP, trennten die LSAP von ihrem zweiten Sitz. In einem Bezirk, in dem 2018 insgesamt mehr als 3.000 Wahlzettel „blanc“ oder „nul“ abgegeben wurden, ist das nicht viel.
Egal, ob LSAP oder CSV den neunten Sitz gewinnt: Das Verhältnis der Parteistimmen ist nicht wirklich mit der Verteilung der Sitze in Einklang zu bringen. Im tatsächlichen Wahlergebnis von 2018 erhielt die CSV 111.067 Stimmen und gewann vier Sitze. Die LSAP konnte etwa die Hälfte an Wählerstimmen auf sich vereinen (54.632), gewann am Ende aber nur einen Sitz, also ein Viertel der Mandate der CSV. Hätte die LSAP den neunten Sitz für sich entschieden, wäre das Verhältnis zur CSV zwei zu drei Sitze. Ebenfalls keine adäquate Abbildung der Stimmenverteilung.
Konkurriert hat die LSAP um diesen letzten Platz auch mit den Piraten. Mit einem Quotienten von 26.421 fehlten ihnen 1.346 Stimmen, also 150 Listen-Wähler, um zum ersten Mal einen Platz im Norden zu gewinnen – und landesweit auf drei Sitze in der Chamber aufzustocken.
Beispielrechnung für den Wahlbezirk Norden
Gesamtstimmen: 344.537
Anzahl Sitze: 9
Gesamtstimmen / (Anzahl der zu vergebenden Sitze + 1) = Wahlquotient
344.537 / (9+1) = 34.454 (aufgerundet)
1. Verteilung
Piraten 26.421 / 34.454 = 0,7668 …
déi gréng 44.728 / 34.454 = 1,2981…, also 1 Sitz
LSAP 54.632 / 34.454 = 1,5856 …, also 1 Sitz
CSV 111.067 / 34.454 = 3,2236 …, also 3 Sitze
KPL 2.734 / 34.454 = 0,0793 …
DP 59.039 / 34.454 = 1,7135 …, also 1 Sitz
ADR 33.751 / 34.454 = 0,9795 …
déi Lénk 12.165 / 34.454 = 0,3530 …
2. Verteilung
Piraten 26.421 / (0+1) = 26.421
déi gréng 44.728 / (1+1) = 22.364
LSAP 54.632 / (1+1) = 27.316
CSV 111.067 / (3+1) = 27.766,75
KPL 2.734 / (0+1) = 2.734
DP 59.039 / (1+1) = 29.519
ADR 33.751 / (0+1) = 33.751, also 1 Restsitz
déi Lénk 12.165 / (0+1) = 12.165
3. Verteilung
Piraten 26.421 / (0+1) = 26.421
déi gréng 44.728 / (1+1) = 22.364
LSAP 54.632 / (1+1) = 27.316
CSV 111.067 / (3+1) = 27.766,75
KPL 2.734 / (0+1) = 2.734
DP 59.039 / (1+1) = 29.519, also 1 Restsitz
ADR 33.751 / (1+1) = 16.875
déi Lénk 12.165 / (0+1) = 12.165
4. Verteilung
Piraten 26.421 / (0+1) = 26.421
déi gréng 44.728 / (1+1) = 22.364
LSAP 54.632 / (1+1) = 27.316
CSV 111.067 / (3+1) = 27.766,75, also 1 Restsitz
KPL 2.734 / (0+1) = 2.734
DP 59.039 / (2+1) = 19.679
ADR 33.751 / (1+1) = 16.875
déi Lénk 12.165 / (0+1) = 12.165
Zentrum
Im von der Mandatszahl her zweitgrößten Bezirk des Landes werden 21 Sitze vergeben. Auch hier gab es 2018 ein knappes Rennen bei der Vergabe der Restsitze. In der ersten Verteilung erhielt die CSV sechs Sitze, die DP fünf, „déi gréng“ drei, die LSAP zwei, ADR, „déi Lénk“ und die Piraten jeweils einen. Zwei Restsitze mussten in zwei weiteren Verteilungen vergeben werden. Der zwanzigste Sitz ging recht deutlich an die CSV mit einem Quotienten von 48.241.
Beim 21. und letzten Sitz war das Ergebnis enger. Die Grünen schlugen die DP um einen Wert von 258,75. Die Liberalen hätten nur 1.554 Stimmen mehr gebraucht, um einen sechsten Sitz im Zentrum zu gewinnen. Umgerechnet wären das gerade einmal 74 Wähler, die ihr Kreuzchen bei der DP-Liste hätten setzen müssen. Auch hier gilt: In einem Wahlbezirk mit 63.488 Wählern ist das eine hauchdünne Niederlage.
Die LSAP hingegen, die 2018 im Zentrum zwei Sitze holte, verpasste das dritte Mandat um weniger als 5.000 Stimmen oder genauer: 233 Listen-Wähler. Nicht ganz so knapp wie die DP, aber doch in Reichweite. Es wird eine der Fragen des Wahlabends sein, ob „déi gréng“ diesen Erfolg im Zentrum wiederholen können – oder ob sie ihren Sitz an die Noch-Koalitionspartner DP oder LSAP verlieren werden, die 2018 dicht hinter ihnen lagen. Angesichts der Resultate aus den Gemeindewahlen scheint letztere Option wahrscheinlicher, auch wenn „déi gréng“ in Luxemburg-Stadt im Juni stabile Ergebnisse einfahren konnten. Aber auch die LSAP wird es im Zentrum nicht leicht haben. Die ersten beiden Listenkandidaten von 2018, Etienne Schneider und Marc Angel, treten in diesem Jahr nicht mehr an. Bleibt abzuwarten, ob der Paulette-Lenert-Effekt aus dem Osten ins Zentrum schwappen kann.
Osten
Der östliche Wahlbezirk ist der kleinste Wahlbezirk Luxemburgs. Hier werden insgesamt sieben der 60 Abgeordnetenmandate vergeben. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen kommt dem Osten aber eine besondere Bedeutung zu: Die LSAP-Spitzenkandidatin Paulette Lenert hat entschieden, sich dem Wähler in ihrem Heimat-Wahlbezirk zu stellen – und nicht wie bei nationalen Spitzenkandidaten eigentlich üblich in einem der beiden großen Wahlbezirke im Süden oder Zentrum.
2018 dominierte die CSV den östlichen Wahlbezirk mit einem Wahlergebnis von 29,4 Prozent, was schlussendlich in drei Sitzen resultierte. Die DP ergatterte zwei Sitze, während LSAP und „déi gréng“ sich mit einem Sitz begnügen mussten. ADR und Piraten gingen leer aus.
Dabei fehlte der ADR nur ganz wenig, um das Wahlergebnis im Osten komplett auf den Kopf zu stellen. Nach einer ersten Verteilung der Sitze (zwei an die CSV, jeweils einen an DP, LSAP und „déi gréng“) mussten noch zwei Restsitze vergeben werden. Der erste ging mit einem komfortablen Vorsprung an die DP mit einem Quotienten von 21.840. Beim zweiten war es weitaus knapper, die ADR verpasste den letzten Restsitz um einen Wert von 562. Das bedeutet, dass der ADR umgerechnet 80 Listenwähler fehlten, um der CSV den letzten zu vergebenden Restsitz zu entreißen.
Die Mission bei den diesjährigen Wahlen im Osten für die LSAP lautet, einen zweiten Sitz hinzugewinnen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass das alles andere als ein leichtes Unterfangen wird. Der EU-Kommissar Nicolas Schmit, mit Abstand größter Stimmenfänger der LSAP bei den vergangenen Wahlen, tritt in diesem Jahr nicht mehr an. Ob Paulette Lenert Nicolas Schmit adäquat ersetzen kann, wird sich erst am Wahlabend zeigen. Doch nicht nur muss das Wahlresultat von 2018 wiederholt werden, die LSAP müsste es quasi pulverisieren. Insgesamt sammelte die LSAP-Liste bei den vergangenen Legislativwahlen 27.222 Stimmen. 2018 hätte die LSAP 14.000 weitere Stimmen benötigt, um einen zweiten Restsitz zu ergattern. 2018 hatten die drei ersten LSAP-Politiker Nicolas Schmit, Tess Burton und Ben Scheuer insgesamt 14.402 Stimmen auf sich vereint. Man darf gespannt sein, ob Paulettes Stil am Sonntag den Unterschied machen kann.
Süden
In Luxemburgs größtem Wahlbezirk werden insgesamt 23 Abgeordneten-Mandate vergeben. 2018 sind nach einer ersten Verteilung 20 Sitze vergeben worden. Sechs Sitze gingen an die CSV, fünf an die LSAP, drei an „déi gréng“, jeweils zwei an DP und ADR, die Piraten und „déi Lénk“ konnten sich einen Sitz sichern. Es blieben demnach drei Restsitze zu verteilen. Der erste Restsitz ging mit einem Quotienten von 71.405 an die DP. Den zweiten schnappte sich die CSV mit einem Quotienten von 69.778.
Den dritten Restsitz konnte sich die LSAP schlussendlich mit einem Quotienten von 67.233 sichern – knapp vor den Grünen mit einem Quotienten von 66.616. Anders ausgedrückt: Den Grünen fehlten 2.470 Stimmen – was im Wahlbezirk Süden umgerechnet 108 Listenwähler sind. In einem Wahlbezirk mit 242.368 Einwohnern ein denkbar knapper Vorsprung.
Von den restlichen Parteien waren es eigentlich nur die Piraten, die den vier großen Parteien halbwegs gefährlich werden konnten. Mit einem Quotienten von 63.415 fehlten den Piraten ungefähr 8.000 Stimmen oder rund 350 Listenwähler, um einen Anspruch auf einen weiteren Restsitz erheben zu können.
Was das für die Chamber bedeutet
Wenn man die Verteilung der Sitze in den vier Wahlbezirken genauer betrachtet, zeigt sich, dass es vor allem bei dem jeweils letzten Restsitz zu knappen Entscheidungen kam. Im Norden konkurrierten 2018 CSV und LSAP um diesen Sitz, im Osten CSV und ADR, im Süden LSAP und „déi gréng“ und im Zentrum das Dreigestirn Grüne, DP und LSAP. Für die Zusammensetzung der Chamber bedeutet das: Obwohl die knappe Mehrheit der Koalition von DP, LSAP und „déi gréng“ aus gerade einmal 31 Sitzen besteht, spielte die Verteilung der Restsitze für die Sicherung dieser Mehrheit auf den ersten Blick keine Rolle. Im Süden und im Zentrum konkurrierte man sozusagen „in der Familie“ um den letzten Restplatz. Im Osten spielte keine der drei Gambia-Parteien eine Rolle bei der Verteilung des letzten Sitzes, den CSV und ADR unter sich ausmachten. Einzig im Norden ging das letzte Mandat knapp an die CSV statt an die LSAP. Hätte die LSAP dort gewonnen, wäre die Mehrheit der Regierungskoalition sogar auf 32 Sitze angewachsen.
Schaut man jedoch genauer hin, ergeben sich Möglichkeiten, wie die Wahl 2018 hätte ganz anders ausgehen können. Im Süden fehlten der CSV etwa 49.600 Stimmen, um anstelle einer der Regierungsparteien den letzten Sitz für sich zu entscheiden – und die Mehrheit von DP, LSAP und „déi gréng“ im Parlament zu kippen. Das sind umgerechnet weniger als 2.200 Listenwähler. Im Zentrum wären es sogar nur etwas mehr als 1.800 Wähler (37.900 Stimmen), die ihr Kreuzchen bei der Liste der CSV hätten setzen müssen, damit die Christsozialen beide Restplätze gewonnen hätten. In diesem Jahr sind 283.879 Wahlberechtigte registriert. Weniger als ein Prozent von ihnen können das Zünglein an der Waage sein, das über die Mehrheit im Parlament entscheidet.
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