Grüne Spitzenkandidatin / Die Überlegte: Sam Tanson kämpft gegen falsche Vorstellungen grüner Politik
Sam Tanson, die erste weibliche Spitzenkandidatin von „déi gréng“, polarisiert. Die einen hassen sie, die anderen finden sie unterkühlt. Über eine Frau, die überlegt, um zu überleben.
Vielleicht muss man bei Sam Tanson mit einem Fehler anfangen. Dem Fehler, sich Tanson, Ministerin für Justiz und Kultur, nationale Spitzenkandidatin von „déi gréng“, nicht über politische Inhalte zu nähern, sondern über etwas anderes. Etwas Vageres, Flüchtigeres. Über Bilder, Projektionen, Vorstellungen.
Am 24. September, genau zwei Wochen vor der Wahl, veröffentlichte die Nord-Sektion von „déi gréng“ auf ihrer Facebookseite Fotos eines Wahlplakats von Tanson in der Gemeinde Grosbous. Mit einem Einschlussloch mitten in der Stirn der Spitzenkandidatin. „déi gréng“ sind Hass gewohnt. Auch tote Katzen auf ihren Plakaten. Aber eine symbolische Exekution ist selbst für diese Partei ein neues Eskalationsniveau.
Es gibt in vielen europäischen Ländern, auch in Luxemburg, einen Politikverdruss, der manchmal in Hass auf die Menschen umschlagen kann, die Politik machen. Der sich anstaut. Und der sich dann Bahn bricht. Meistens fließt er durch die Kanäle der sozialen Medien, in Kommentarspalten und Beiträgen. Und besonders häufig trifft er die Grünen. Selbst wenn sie gemeinsam Politik machen mit anderen Parteien, der größte Batzen Hass, der landet immer wieder bei denselben Leuten. Bei Chantal Gary. Bei François Bausch. Oder eben bei Sam Tanson.
Die Mär von der Verbotspartei
Wenn man Tanson fragt, woher dieser Hass kommt, der den Grünen entgegenschlägt, wirkt sie sehr kurz sehr müde. „Die Zuspitzung in der öffentlichen Debatte, die auch von bestimmten Parteien gefördert wird, die unterstützt das natürlich.“ Wieso verschiedene Populisten, aber auch Konservative es so sehr darauf anlegen, die Grünen zu verteufeln, das habe sie noch nicht so recht verstanden. „Uns wird ein Politikstil angedichtet, der nicht unser Politikstil ist“, sagt Tanson.
Die Sache mit der Verbotspartei ist so ein wirkmächtiges Bild. In Luxemburg, wie im Ausland. Man könnte die These in den Raum stellen, dass der aktuelle Grünenüberdruss auch von einem Blick auf die deutsche Politik befeuert wird. Von der Ampel, vom Streit ums Heizungsgesetz. Von Bevormundung ist die Rede, wenn es um grüne Politik geht, von Oberlehrern, von grünen Spaßbremsen und Moralisten, die den einfachen Leuten das Schnitzel wegnehmen wollen und das Auto.
Sam Tanson ist keine Moralistin. Dafür steckt noch zu viel von der Anwältin in ihr, die sie einmal war. Sie prescht nicht mit erhobenem Zeigefinger vor. Sie analysiert, wiegt ab.
In den ersten Monaten der neuen Regierung in Deutschland wurden die beiden Spitzen-Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock für ihren neuen Politikstil gefeiert, er für seinen Klartext in der Krise, sie für ihre feministische Außenpolitik. Tanson muss bei der Frage nach ihrem politischen Stil einen Moment nachdenken. „Ich denke nicht, dass man sich als Mensch verstellen kann. Ich bin ein bisschen zurückhaltend und überlegt in meinen Taten. Ich könnte keinen Politikstil pflegen, der in die totale Gegenrichtung geht, das funktioniert nicht.“ Die Politik spiegelt den Menschen wider, der sie macht.
Verschleppte Justizreformen
Als Justizministerin hat Tanson viel überlegt, sie hat Stimmen und Meinungen eingeholt, sich tief in unterschiedliche Materien gearbeitet. Darunter scheint häufig der Zeitplan gelitten zu haben. Die schon seit einigen Jahren diskutierte und lange überfällige Reform des Jugendschutzgesetzes konnte Tanson in der aktuellen Legislaturperiode nicht zu Ende bringen. Genauso wenig die Erneuerung des Adoptionsrechts.
Bei den Vorhaben, die sie umsetzte, musste sich Tanson auch viel Kritik aus dem eher linken, progressiven Lager anhören. Der Chaos Computer Club monierte gravierende Lücken in ihrem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Und aus der Cannabis-Legalisierung, die DP, LSAP und „déi gréng“ versprochen hatten, wurde ein abgespecktes Gesetz, das Zucht und Haltung von maximal vier Pflanzen im eigenen Haushalt erlaubt.
Kurz vor der Sommerpause verabschiedete die Chamber Tansons Reform des Sexualstrafrechts. Die Ministerin verlängerte die Verjährungsfristen, erhöhte die Strafen für Missbrauch, führte Inzest als neuen Straftatbestand ein, ebenso eine Klausel, die einen maximalen Altersunterschied für Sex zwischen Jugendlichen vorsieht. Eine Verschärfung, die Minderjährige besser schützen soll. Aber eine Verschärfung, nichtsdestotrotz. Nicht das, was man dem Klischee nach von einer grünen Politikerin erwarten würde.
Als Spitzenkandidatin ist Tanson aus Ressorts in den Wahlkampf gestartet, die man nicht unbedingt sofort mit ihrer Partei in Verbindung bringt. Wieder so ein Bild, dem sie vehement widerspricht. Natürlich sei es die Umweltfrage, die bei der Gründung ihrer Partei im Vordergrund gestanden habe. „Aber daneben gab es auch die Frauenrechte und allgemein die Rechte von Minderheiten. Der Schutz der besonders Schutzbedürftigen ist zentral für grüne Politik.“ Weshalb eine grüne Justizministerin auch zur grünen DNA passe. „Für mich stellt sich die Frage nicht, ob irgendein Ressort ungrün ist. Weil wir Antworten in allen Bereichen haben.“
Probleme zusammendenken
Dienstagabend, fünf Tage vor der Wahl, das TV-Duell der Spitzenkandidaten bei RTL. CSV-Spitzenkandidat Luc Frieden tritt gerade dafür ein, Klima- und Wohnungspolitik voneinander zu trennen, um die Probleme in diesen Bereichen nacheinander angehen zu können. Tanson schüttelt den Kopf. „Das ist typisch für die Politik, wie sie in diesem Land früher gemacht wurde. Wir klammern etwas aus und konzentrieren uns auf etwas anderes.“ Auf diese Weise würde man immer nur neue Krisen fabrizieren. Probleme zusammendenken, statt zu isolieren. Das ist komplexer, schwerer zu erklären, noch schwerer zu verkaufen. Aber es ist der Weg, für den sich Tanson und ihre Partei entschieden haben.
Am nächsten Vormittag ist Tanson zu Gast im Lycée Ecole de Commerce et de Gestion in Hollerich. Auch LSAP, DP, „déi Lénk“, Piraten und CSV sind vertreten. Luc Frieden ist wieder mit von der Partie, sitzt zwei Stühle neben Tanson. Er wird später sagen: „Sam und ich sind die einzigen Anwälte hier.“ Tanson spricht klar und strukturiert. Als es um ein Lieferkettengesetz geht, das luxemburgische Unternehmen in Verantwortung nehmen soll für die Umstände, unter denen ihre Produkte im Ausland hergestellt werden, sagt Tanson, es mache keinen Sinn, das jetzt auf nationaler Ebene zu regeln, wenn man auf EU-Ebene auch daran arbeite.
Mit solchen Aussagen holt man sich keinen Szenenapplaus beim jungen Publikum. Tanson ist kein Marc Baum, der mit flotten Sprüchen wie „Das Recht ist zu wichtig, um es den Anwälten zu überlassen“ den Saal auf seine Seite ziehen kann. Tanson ist nicht einmal eine Yuriko Backes, die dem Publikum einen kalkulierten Einblick in ihr Inneres gewährt, wenn sie sagt, sie sei hin- und hergerissen zwischen ihrer persönlichen Meinung und der ihrer Partei.
Sam Tanson ist eine überlegte Person. Für manche zu überlegt. Es gibt Menschen, die werfen ihr vor, unterkühlt zu sein. Und wenn? Vielleicht ist die Kühle, die Distanz, das Analytische, das sie auf der Bühne und im Rampenlicht manchmal ausstrahlt, ein Schutzmechanismus. Gegen den Hass, der ihr und ihrer Partei entgegenschlägt. Gegen die vielen haltlosen Vorwürfe, die so viel Kraft kosten und Energie abziehen, von der sinnvollen Kritik, mit der man sich auseinandersetzen möchte. Vielleicht ist diese klare, nüchterne Professionalität genau das, was man braucht, um als erste weibliche Spitzenkandidatin von „déi gréng“ bestehen zu können.
Tanson kann Inhalte. Das hat sie in diesem Wahlkampf bewiesen. Bleibt die Frage, ob sie und ihre Partei es schaffen werden, die Leute mit diesen Inhalten auch abzuholen und mitzunehmen. Noch ist nicht klar, wer sich am Ende durchsetzen wird: die Inhalte oder die Projektionen.
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