Interview / Politologe Philippe Poirier: „Parteien werden Strategien überdenken müssen“
Der Politologe Philippe Poirier kennt Luxemburgs Wahlsystem wie kein anderer. Im Gespräch mit dem Tageblatt erklärt der Wissenschaftler der Universität Luxemburg, warum der starke Verlust der Grünen nicht überraschend kam und warum die DP optimistisch in die Zukunft blicken kann.
Tageblatt: Herr Poirier, haben Sie die Wahlen in Luxemburg trotz Ihres Auslandsaufenthaltes verfolgen können?
Philippe Poirier: Ja, ich habe die Wahlen verfolgen können, obwohl ich in der Nacht von Sonntag auf Montag nach Kanada geflogen bin. Ich habe alles genauestens verfolgt und mir die Ergebnisse für jede Gemeinde genau ansehen können. Ich habe tatsächlich schon einige interessante Beobachtungen bezüglich der Parteien machen können. Auch hat sich herausgestellt, dass unsere Studie, der Polindex, die Hauptmerkmale des Wahlkampfes erkannt und den Wertewandel, den wir in den Wahlresultaten ausgedrückt sehen, richtig eingeschätzt hat – auch wenn es kein Prognose-Tool ist. Es ist beruhigend, dass wissenschaftliche Instrumente fürs Verständnis der Wahlergebnisse weiterhin nützlich sind.
Interessant ist, dass insbesondere bei den Christsozialen und den Sozialisten viele Zugpferde viele persönliche Stimmen verloren habenPolitologe
Es gab demnach keine großen Überraschungen für Sie am Sonntag?
Nein, weil die Themen, die die Wähler beschäftigt haben, uns bekannt waren. Der Wohnungsbau war entscheidend und hat alle anderen überwogen. Inflation und Kaufkraft sowie die Steuerfrage haben den Wähler ebenfalls beschäftigt. Auch die Renten, Gesundheitspolitik und soziale Kohäsion waren unter den acht meistgewählten Wählersorgen. Sieben der acht meistgenannten Wahlkampfthemen waren wirtschaftlicher Art, während mit dem Klimawandel eigentlich nur ein postmaterialistisches Thema den Wähler beschäftigt hat. Diese acht Themen haben sich durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurchgezogen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozioökonomischem Hintergrund. Dieser Umstand hat dann noch einmal das beschleunigt, was man schon im Juni bei den Gemeindewahlen festgestellt hat: nämlich das Ausmaß des Stimmverlusts für die Grünen, der nicht nur in einer Gemeinde festgestellt werden konnte. Ich habe bei der Vorstellung der Studie im Chamber-Büro zwei Wochen vor den Wahlen gesagt, dass die Grünen vier, wenn nicht sogar fünf Sitze verlieren könnten, wenn es katastrophal laufe.
Welche Beobachtungen bezüglich der Parteien haben Sie denn machen können?
Interessant ist, dass insbesondere bei den Christsozialen und den Sozialisten viele Zugpferde wie beispielsweise Jean Asselborn, Mars Di Bartolomeo (LSAP) oder auch Claude Wiseler, Laurent Mosar und Marc Spautz (CSV) viele persönliche Stimmen verloren haben. Es ist normal, dass in einem Wahlsystem die Attraktivität verschiedener Politiker zu erodieren beginnt. Das Gleiche ist Jean-Claude Juncker 2013 passiert. Interessant ist, dass es vor allem bei der CSV und der LSAP vorkommt, wenngleich auch Simone Beissel (DP) betroffen ist. Weiter ist eine Glättung der nationalen Ergebnisse der Parteien festzustellen. Sonst war der Süden eine Hochburg der Sozialisten, der Norden die Hochburg der CSV und im Zentrum dominierten die Liberalen. Heutzutage stellen wir fest, dass diese Tendenzen weniger stark ausgeprägt sind und sich die Ergebnisse der Parteien in den verschiedenen Bezirken aneinander angleichen. Das wird die Parteien dazu nötigen, ihre Strategie bei den kommenden Wahlen zu überdenken.
Wer kann sich denn als Gewinner der Wahlen sehen?
Beim Verlierer gibt es ja keine Zweifel, dass das die Grünen sind. Im Gegenzug denke ich, dass die Liberalen am optimistischsten nach den Wahlen sein können. Nicht etwa, weil sie fast zwei Prozentpunkte hinzugewonnen haben, sondern weil sie es geschafft haben, besonders im Süden noch einmal zuzulegen. Das bedeutet einerseits, dass sich die Wählerschaft mit ihren Präferenzen und Interessen wandelt. Und andererseits, dass die Liberalen sich im Süden und auch im Norden am besten an diesen Wandel angepasst haben. Das Phänomen war schon 2018 festzustellen und hat sich bei den Gemeindewahlen und jetzt bei den Chamberwahlen bestätigt.
Und die CSV?
Die CSV hat ein sehr gutes elektorales Ergebnis erzielt. Das, weil alle Indikatoren darauf hindeuteten, dass die CSV eventuell weitere Sitze verlieren könnte. Sie haben jedoch wie die DP auf den gesellschaftlichen Wandel reagiert und ihren Niedergang gestoppt. Besonders im Zentrum, aber auch in den Gemeinden in den östlichen und nördlichen Wahlbezirken, die nah am Zentrum liegen, kann festgestellt werden, dass sie ein gutes elektorales Ergebnis erzielt haben.
Ungefähr 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft sind unzufrieden mit der jetzigenPolitologe
Politik
Was haben Sie für die LSAP festgestellt?
Die Sozialisten haben – unabhängig vom Ergebnis ihrer Spitzenkandidatin Paulette Lenert – durch die Verankerung ihrer Kandidaten sehr gute Ergebnisse in einzelnen Gemeinden einfahren können. Jedoch muss festgestellt werden, dass in ehemaligen Hochburgen wie beispielsweise Düdelingen, wo die LSAP noch immer beste Partei ist, die Wählererosion eingesetzt hat. Nicht aufgrund der Kandidaten, sondern weil sich das soziologische Profil der Wählerschaft verändert. Die in vereinzelten Gemeinden im Norden und Osten erzielten Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass eine Nachfrage für eine Mitte-links-Politik herrscht.
Aber die Piraten und die ADR haben jeweils einen Sitz hinzugewonnen.
Der Polindex hat gezeigt, dass ungefähr 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft unzufrieden mit der jetzigen Politik sind. Diese waren insbesondere in den finanz- und bildungsschwächeren Gesellschaftsschichten vorzufinden. Ich würde sie aber nicht alle als Protestwähler bezeichnen. Piraten und ADR haben es am besten geschafft, einen Teil dieser Wählerschaft zu mobilisieren. Das bedeutet nicht, dass die Piraten und die ADR die gleiche Wählerschaft hätten. Es bedeutet lediglich, dass die ADR diese Wählerschaft eher ansprechen konnte als die Piraten. Die beiden Parteien haben nicht nur Protestwähler. Es gibt durchaus Wähler, die sich mit beiden Parteien identifizieren. Die Piraten haben in der vergangenen Legislaturperiode gezeigt, dass sie die parlamentarische Arbeit durchaus ernst nehmen.
Wie analysieren Sie das Wahlergebnis der Linken?
„Déi Lénk“ agieren in einem politischen System, in dem sich die gesamte Wählerschaft in Gehaltsklassen bewegt, in denen die soziale Frage, so wie „déi Lénk“ sie artikuliert, nicht anspricht. Es wäre eventuell anders, wenn die Wählerschaft erweitert werden würde. Eine Hypothese, die ich derzeit noch nicht belegen kann, ist, dass viele Wähler, die sonst zwischen „déi Lénk“ und LSAP panaschiert haben, im strategischen Sinne die LSAP gewählt haben. Das wird aber erst nach der Auswertung der Wahlzettel klar werden.
War es eher der Luxemburger Kontext, der ausschlaggebend war, oder folgt Luxemburg europäischen Tendenzen?
Es gibt Fragen, die dem politischen System Luxemburgs zugehörig sind. Die Frage des „Logement“ betrifft Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Gewerkschaften und Patronatsverbände gleichermaßen. Bei Fragen der Energie und der Inflation kann die Luxemburger Wirtschaft seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs natürlich nicht von der Eurozone entkoppelt werden. Die Wählerschaft aber wird mit einer Realität konfrontiert: nämlich dem, was die Wähler tagtäglich erleben. Interessant ist in dem Sinne auch, dass die Erstwähler in diesem Jahr andere Prioritäten hatten als noch die Erstwähler vor fünf Jahren. Die Bedeutung der Klimakrise war beispielsweise weniger ausgeprägt als bei den Erstwählern vor fünf oder zehn Jahren. Sie haben jetzt vor allem Luxemburger Probleme wahrgenommen.
Das leichte Plus der ADR muss also auch nicht zwingend in Zusammenhang mit dem Erstarken rechtsextremer Parteien in Europa zu tun haben?
Ich würde an dem Punkt anmerken, dass die ADR nicht in die Kategorie rechtsextremer Parteien fällt. Es ist eine rechtskonservative Partei, die auch in Immigrationsfragen eine Agenda verfolgt. Damit will ich keine Partei verteidigen oder bewerben, jedoch fallen sie noch nicht unter die Klassifikation als rechtsextreme Partei. Die Frage ist aber insofern interessant, als sich die Fragen der Energie, der Inflation oder auch der Zuwanderung ebenfalls in Europa stellen – jedoch in einer ganz anderen Kategorie. Die Frage des „Logement“ stellt sich in einer anderen Dimension auch in Frankreich. Die Frage der Migration stellt sich ebenfalls in Europa – in Luxemburg jedoch eher in einem ökonomischen Kontext. Die Probleme können sich überlagern und demnach auch beeinflussen. Jedoch gibt es auch eine autonome Luxemburger Sphäre.
Am Sonntag haben aber auch fast 20 Prozent der Wahlberechtigten nicht gewählt …
Genau, ungefähr 20 Prozent der Wahlberechtigten haben nicht gewählt, indem sie entweder einen weißen oder ungültigen Zettel abgegeben haben oder gar nicht erst im Wahlbüro erschienen sind. Dadurch, dass die Strafen fürs Nichtwählen trotz Wahlpflicht seit Jahrzehnten nicht mehr angewandt werden, ist es faktisch so, als gäbe es keine Wahlpflicht. Zudem muss noch analysiert werden, wie viele der über 75- Jährigen nicht gewählt haben und bei wie vielen der Briefwähler die Frist nicht eingehalten wurde. Es sollte den Gesetzgeber jedoch beschäftigen, wie der Zugang zur und die Wahl an sich vereinfacht werden kann.
Ich habe Studenten, die mich gefragt haben, wie man wählt. Ich habe ihnen die Modalitäten dann erklärt – das zeigt jedoch, dass es auch ein pädagogisches Problem oder ein Wissensproblem beim Wähler gibt. Das wird sich aber noch zeigen, wenn wir die Wahlzettel in den kommenden Wochen und Monaten auswerten.
Sollten die Sanktionen für Nichtwähler angewandt werden?
Ich weiß nicht, ob die Sanktionen angewandt werden sollen. Jedoch ergibt es keinen Sinn, eine Wahlpflicht zu haben, wenn die Sanktionen nicht angewandt werden. Ein unter Zwang ausgefüllter Wahlzettel muss jedoch nicht unbedingt in einem wohlüberlegt ausgefüllten Wahlzettel resultieren. Es gibt Personen, die politisch nicht interessiert sind und auch nicht wählen wollen. Es kann dann schon vorkommen, dass eher nach Sympathie entschieden wird. Ich habe keine endgültige Lösung, jedoch denke ich, dass das Problem erneut debattiert werden sollte.
Wie kann das Demokratiedefizit dann behoben werden?
Ein Drittel der Luxemburger Einwohner nimmt tatsächlich an der Wahl teil. Einerseits interpretieren die Abgeordneten im Parlament ihre Rolle als Repräsentanten der Bevölkerung, und nicht nur der Wähler. Das kann man an den Gesetzen festmachen, die die Abgeordnetenkammer verabschiedet. Andererseits ist es so, dass seit dem Referendum das Wahlrecht nicht mehr von der Staatsbürgerschaft getrennt werden kann. Jedoch kann man auch nicht in einem politischen System weitermachen, in dem nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung teilnehmen kann. Wie kann es sein, dass Wähler in Lateinamerika wählen können, und Personen, die seit 20 oder 30 Jahren in Luxemburg wohnen, dies nicht dürfen? Also besteht die Möglichkeit, die Wählerschaft zu vergrößern, indem die Kriterien der Staatsbürgerschaft – ich spreche nicht von der Nationalität – erweitert werden. Das ist eine politische Entscheidung, die in den Händen der neu gewählten Abgeordneten liegt. Oder man geht das auf europäischem Niveau an, indem man europäischen Bürgern das Wahlrecht in anderen europäischen Ländern anerkennt.
Muss man in dem Kontext nicht auch über die Wahlbezirke diskutieren?
Ich recherchiere seit den Wahlen 1999 zu Luxemburgs Wahlsystem. Wenn der Wähler auch Verbesserungen des Wahlsystems fordert, stellt er die vier Wahlbezirke nicht grundsätzlich infrage. Die Wähler wollen jedoch ein direktes Mitspracherecht beim Posten des Premierministers. Ein solcher Vorschlag ist jedoch von keiner der vier Parteien unterbreitet worden. Wenn wir von Repräsentation reden, müssen wir auch über die steigende Komplexität der parlamentarischen Arbeit sprechen. Das Luxemburger Parlament erledigt mit seinen 60 Abgeordneten die gleiche Arbeit wie der Deutsche Bundestag. Eine Konsenslösung wäre also, die Anzahl der Abgeordneten zu erhöhen.
Inwiefern löst das das Problem der Repräsentation?
Es würde es ermöglichen, die Wahlbezirke an die Bevölkerung anzugleichen und den unterrepräsentierten Wahlbezirken die gerechte Anzahl an Repräsentanten zuzuweisen. Das Parlament könnte demnach um 20 Abgeordnete erweitert werden, die entsprechend der Bevölkerungsanzahl auf die verschiedenen Bezirke aufgeteilt werden würden. In dem Sinne könnte auch die Mandatsverteilung noch einmal untersucht werden. Nehmen wir das Beispiel der LSAP, die im Süden prozentual zulegen, jedoch keinen weiteren Sitz hinzugewinnen konnte. Im Zentrum verliert sie sogar leicht, kann aber durch die Restsitzverteilung ein weiteres Mandat gewinnen. Das wären Reformen, die die Qualität der Repräsentation im Parlament erhöhen würden.
Welche Nachteile könnte es geben?
Bei Reformen muss man auch darüber reden, wer davon in erster Linie profitieren würde. Es liegt jedoch dann am Wähler, gemäß seinen Überzeugungen eventuelle Verlierer bei der nächsten Wahl wieder zu stärken. 1919 wurde das Frauenwahlrecht eingeführt. Die, die das während Jahren blockiert hatten, die Liberalen, wurden bei der nächsten Wahl abgestraft. Das hat sich in den 1920er Jahren und in den Folgejahren dann jedoch wieder begradigt – einfach weil das Wahlvolk eher liberal eingestellt war und entsprechend gewählt hat.
Eine Reform könnte also die eine oder andere Partei benachteiligen – und dann müsste man noch wissen, welche genau – bis sich das Kräfteverhältnis wieder nach Vorstellung des Wählerwillens einpendelt. Wichtig wäre in der Hinsicht aber auch, eine anständige Wahlkampagne zu führen.
Inwiefern?
Es ist wichtig, dass der Wähler die Herausforderungen der Zeit und die angebotenen Lösungen der Parteien versteht. Luxemburg hat knappe drei Wochen nach Schulbeginn gewählt. Das ist zeitlich sehr knapp. Niemand würde der Regierung vorwerfen, ihre Amtszeit verlängern zu wollen, wenn sie die Wahlen in den Dezember verlegt. Es sind viel eher die Oppositionsparteien, die unter kurzen Wahlkampagnen leiden, das haben Studien aus anderen Wahlsystemen bereits gezeigt. Das bedarf auch keiner großen Überlegungen. Wenn das aber nicht zu Beginn der Legislatur geschieht, wird es meines Erachtens nicht passieren.
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Mehr Abgeordnete ? So lang man noch Bürgemeister und Abgeordnete zu gleiche Zeit sein kann, sehe ich da kein Handlungsbedarf.
Und was hat Wahlkampagne mit Schulferien zu tun ? Kann ein Partei nicht arbeiten in den Schulferien, einmal in 5 Jahre ?
Ech gesin dass dei Politologen an Politesch Beroder ewei Champignons aus dem Buedem schei’ssen. Och op den Wahlleschten waren deer genug ze gesin. Wat as eigentlech den Senn vun deser Positioun?