Österreich / Grüne in schweren Turbulenzen und Rechtspopulisten im Hoch: Die Lage vor der EU-Wahl
In Österreich steht der EU-Wahlkampf ganz im Zeichen der im September anstehenden Nationalratswahl. Es droht ein doppelter Triumph der Rechtspopulisten sowie ein Debakel für ÖVP und die in schwere Turbulenzen geratenen Grünen.
Es war ein genialer Schachzug: Während alle anderen Parteien alte, weiße Männer ins Rennen schickten, zauberte Grünen-Chef Werner Kogler eine Spitzenkandidatin aus dem Hut, mit der niemand gerechnet hatte: Lena Schilling, 23 Jahre jung, ebenso fesch wie frech. Die Newcomerin aus der Fridays-for-Future-Bewegung hob sich in vielerlei Hinsicht ab vom Feld der Mitbewerber, von denen der jüngste 55 und keiner ein neues Gesicht ist. Die mediale Begleitmusik war freundlich, sogar Patzer wie die Einstufung Norwegens als EU-Mitglied wurden Schilling nachgesehen.
Schilling-Kurs fällt
Doch mittlerweile bewundert selbst bei den Grünen kaum noch jemand Lenas Kür. Seit der ansonsten durchaus wohlwollend über die Öko-Partei berichtende Standard vor zwei Wochen die „Lügen-Affäre“ publik machte, verfällt der Schilling-Kurs. Die Junggrüne soll teils existenzbedrohende Unwahrheiten über Weggefährtinnen und Journalisten verbreitet haben, unter anderem das Gerücht, der linke Kolumnist Sebastian Bohrn Mena hätte seine Ehefrau Veronika dermaßen geschlagen, dass diese eine Fehlgeburt erlitten habe. Das Ehepaar setzte sich zur Wehr, Schilling musste eine gerichtliche Unterlassungserklärung unterschreiben. Weil es sich um ein Drama unter – mittlerweile ehemaligen – Freunden handelte, wollten es die Bohrn Menas dabei belassen und eine öffentliche Bloßstellung der grünen Spitzenkandidatin vermeiden. Irgendwie gelangte eine Kopie der Unterlassungserklärung aber doch an den Standard, der sie veröffentlichte und die Grünen ins Chaos stürzte. Obwohl die Parteispitze seit März Bescheid wusste, versemmelte sie das Krisenmanagement.
Parteichef Vizekanzler Kogler tat die Enthüllungen zunächst als „anonymes Gefurze und Gemurkse“ ab, musste sich dafür hinterher ebenso entschuldigen wie Grünen-Generalsekretärin Olga Voglauer, die der SPÖ und ihrem Spitzenkandidaten Andreas Schieder unterstellte, die Affäre ins Rollen gebracht zu haben. Seit auch noch Chats bekannt wurden, in denen Schilling im vergangenen November noch geschrieben hatte, sie habe ihr Leben lang „niemanden so sehr gehasst“ wie die Grünen, und zudem – angeblich nicht ernst gemeinte – Überlegungen anstellte, nach der EU-Wahl sofort in die Linksfraktion zu wechseln, ist bei den Grünen nur noch Feuer am Dach. Eine diese Woche veröffentlichte Umfrage sah sie noch bei zehn Prozent (minus vier gegenüber 2019), allerdings fand die Befragung noch vor dem Höhepunkt der Affäre statt.
Koalitionärer Kleinkrieg
Die zentralen Themen der Grünen geraten wegen der Schilling-Affäre aus dem Fokus und zudem unter die Räder des koalitionären Kleinkriegs: Mit Blick auf die Nationalratswahl, nach der eine Fortsetzung des türkis-grünen Bündnisses schon rein rechnerisch ausgeschlossen ist, positioniert sich die ÖVP mit Anti-Grün-Themen. Die Kanzlerpartei blockiert seit Monaten die Übermittlung eines Klimaschutzplanes nach Brüssel, die ÖVP-dominierten Bundesländer verhindern eine Zustimmung Österreichs zum EU-Renaturierungsgesetz durch die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler, die sich auch mit ihrem Gesetzesvorschlag für einen Ausstieg aus russischem Gas die Zähne am Koalitionspartner ausbeißt.
Auch wenn sich ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka hauptsächlich auf seinen FPÖ-Kontrahenten Harald Vilimsky einschießt und vor einer Zerstörung der EU durch Rechtsextremisten und Rechtspopulisten warnt, geht es nur vordergründig um Europa. Die letzte EU-Wahl fand kurz nach dem Ibiza-Skandal statt, der die FPÖ vorübergehend einbremste und der ÖVP mit Sebastian Kurz einen Höhenflug auf 34 Prozent beschert hatte. Inzwischen ist auch der türkise Wunderwuzzi Geschichte und die ÖVP in Umfragen mit einem Absturz auf 22 Prozent konfrontiert. Nicht nur der Spitzenkandidat von 2019, der scheidende EU-Parlamentsvize Othmar Karas, hat mit seiner Partei gebrochen und auf eine erneute Kandidatur verzichtet, auch der ehemalige Vizekanzler Reinhold Mitterlehner tat kürzlich öffentlich kund, er erwäge, am 9. Juni den Neos-Kandidaten Helmut Brandstätter zu wählen, weil die ÖVP „nicht mehr wirklich Europa-orientiert sei“.
Die FPÖ opfert Österreichs Interessen an der Kremltüre“SPÖ-Spitzenkandidat
Tatsächlich präsentieren sich nur die liberalen Neos als begeisterte EU-Fans. Während es bei der ÖVP nur für den Slogan „Europa, aber besser“ reicht, propagieren die Liberalen auf ihren Plakaten mutig „Vereinigte Staaten von Europa“, wohl wissend, dass dies selbst manchen EU-Befürwortern zu weit geht. Die Neos profitieren von der Schilling-Affäre und könnten die Zehn-Prozent-Marke überspringen.
FPÖ-Skandalplakat
Mindestens so skandalös wie die publik gewordenen Rufmordversuche der grünen Kandidatin ist der FPÖ-Wahlkampf, dessen Inhalte aus Putins Trollfabrik stammen könnten. So prangt auf den Plakaten der Rechtspopulisten über dem Slogan „EU-Wahnsinn stoppen“ eine Szene, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj küssend zeigt, und daneben das Wort „Kriegstreiberei“. Vergeblich sucht man einen Hinweis darauf, dass auch ein gewisser Wladimir Putin etwas mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Ins rechtsextreme Bild passt auch, dass die FPÖ gegen den Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion gestimmt hat. Noch vor Kurzem hatte Vilimsky bei einem Treffen mit dem inzwischen selbst der AfD zu radikal gewordenen Spitzenkandidaten Maximilian Krah gemeint, die EU könnte funktionieren, wenn man „die von der Leyens gegen Krahs“ austausche.
„Die FPÖ opfert Österreichs Interessen an der Kremltüre“, befand SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder, der allerdings das Problem hat, zwar ein alter Hase in der Politik, aber selbst im roten Wählermilieu nicht allzu bekannt zu sein. Ein großes Thema am Wahlabend wird sein, ob die SPÖ wenigstens Platz zwei vor der ÖVP schaffen wird. Dass der in Umfragen mit weitem Abstand bei 30 Prozent gehandelten FPÖ der Sieg nicht mehr zu nehmen sein wird, damit hat man sich abgefunden. Sollten ÖVP und/oder SPÖ noch schlechter als ohnehin befürchtet abschneiden, ist nicht auszuschließen, dass nach dem 9. Juni die Karten für die Nationalratswahl im Herbst neu gemischt, sprich: Parteichefs ausgetauscht werden.
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