Belarus / Svetlana Tikhanovskaia: „Wir haben gar keine andere Möglichkeit, als zu kämpfen“
Die Oppositionspolitikerin Svetlana Tikhanovskaia aus Belarus war letzte Woche zu Besuch auf einer Konferenz in Luxemburg. Gesucht wurde nach Lösungen, um die Lage der aus ihrem Land nach Europa geflüchteten Menschen zu vereinfachen. Am Rande der Konferenz beantwortete sie auch einige Fragen des Tageblatt.
„Seit Mai 2020 habe ich ihn nicht mehr gesehen, nicht mit ihm geredet … ich weiß nichts. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt“, so Svetlana Tikhanovskaia am Donnerstagabend vor Journalisten in Luxemburg. So lange ist ihr Mann bereits im Gefängnis. Er wurde zu 19 Jahren verurteilt. Sein Vergehen: Er wollte bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko, den langjährigen Herrscher von Belarus, antreten.
An seine Stelle trat dann seine Frau, Svetlana Tikhanovskaia, die bis dahin Hausfrau war. Laut dem offiziellen Wahlergebnis gewann Lukaschenko. Tikhanovskaia erreichte mit mehr als zehn Prozent der Stimmen den zweiten Platz. Massenproteste gegen die gefälschte Wahl führten damals (ähnlich wie bereits einmal zehn Jahre zuvor) zu zahlreichen Festnahmen, Folter und schlussendlich vielen Menschen, die aus ihrem Land flüchteten. Auch Tikhanovskaia gehörte dazu. Sie lebt seitdem in Vilnius im Nachbarland Litauen und gilt als „Präsidentin des freien Belarus“.
Viele Geflüchtete (insgesamt sollen rund zwei Millionen Belarussen im Ausland leben) stehen indes vor ganz praktischen Problemen: Ihre Papiere laufen aus, doch sie können nicht in ihr Land zurück, um sie zu erneuern, so Tikhanovskaia letzte Woche in den Räumlichkeiten der Chamber. Das schaffe nun Probleme. Ohne neue Papiere ist es nicht möglich, sich scheiden zu lassen, nicht möglich, Kinder anzumelden.
1.600 politische Gefangene
Für diese und ähnliche Probleme versuchte man nun, auf der Konferenz Lösungen zu finden. Danach sollen die Vorschläge an andere Länder, Mitglieder des Europarats, weitergeleitet werden.
Nach Luxemburg sind nur wenige aus Belarus geflüchtet, so Paul Galles, Abgeordneter im Luxemburger Parlament. Er hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats war er Berichterstatter zum Thema „Herausforderungen für Exil-Weißrussen“ und hat die Konferenz mitorganisiert.
Es ist an der Zeit, der Diktatur die Zähne zu zeigen und sich für die Demokratie einzusetzen
„Wir wollen, dass die Gastländer den Unterschied zwischen Belarus und Russland, zwischen den Bürgern und dem Regime, erkennen“, so die Preisträgerin des Sacharow-Preises für Demokratie und Menschenrechte (2020) und des Karlspreises (2022). Insgesamt sollen mehr als zwei Millionen Belarussen im Ausland leben. Nicht alle davon sind jedoch politische Flüchtlinge.
Auf rund 1.600 wird derweil die Zahl der politischen Gefangenen in Belarus geschätzt. „Zumindest so weit wir wissen. Darunter viele junge Menschen. Sie sind die größten Feinde einer Diktatur. Sie wollen mehr vom Leben. Sie wollen Freiheit.“
Sieg der Ukraine ist sehr wichtig
Bei der Konferenz wurde unter anderem vorgeschlagen, dass die Gastländer abgelaufene Papiere als gültig anerkennen. Andererseits „planen wir auch, eigene belarussische Papiere auszugeben“, so Tikhanovskaia. „Wir hoffen, dass die Länder sie dann anerkennen.“ Bei der Initiative gehe es darum, „dem Diktator zu zeigen, dass er uns nicht besitzt. Er will den Menschen im Ausland schaden. Für ihn ist es wie ein Schlag ins Gesicht.“
Zudem setzt Tikhanovskaia sich dafür ein, dass der Konflikt nicht in Vergessenheit gerät. „Palästina, Gaza, Ukraine … so viel passiert in der Welt … Aber redet mal über ‚Fatigue’ mit denen, die in der Ukraine für ihre Freiheit kämpfen. Oder mit denen, die in Belarus im Gefängnis sitzen. (…) Wir haben gar keine andere Möglichkeit als zu kämpfen … für die Zukunft unserer Kinder“, so die Mutter zweier Söhne. „Lukaschenko verkauft unser Land an Russland. Aber wir wollen frei sein. Wir wollen nicht Teil des russischen Imperiums sein. Wir wollen zurück zur europäischen Familie.“
„Wir geben nicht auf“, unterstreicht sie weiter. „Dabei ist ein Sieg der Ukraine sehr wichtig. Bitte helft ihr, so gut es geht. Wir bekämpfen den gleichen Feind, für die gleiche Zukunft. (…) Hilfen für Weißrussland und die Ukraine sind dabei keine Wohltätigkeit, sondern eine Investition in Frieden und Sicherheit für ganz Europa.“
„Die Politiker im freien Europa sollten wissen, dass es ihre Aufgabe ist, die Demokratie zu retten“, so Tikhanovskaia weiter. „Wir kennen die Diktatur besser als sie. Diktatoren sehen jegliche Unentschlossenheit als Schwäche. Je mehr rote Linien wir sie überschreiten lassen, desto mehr fühlen sie sich ermutigt. Das testen sie immer weiter aus. (…) Es ist an der Zeit, der Diktatur die Zähne zu zeigen und sich für die Demokratie einzusetzen.“ Es sei eine moralische Pflicht, denen zu helfen, die gegen die Diktatur und das russische Imperium kämpfen. Die Menschen sollen „sich nicht von brutaler Propaganda vergiften lassen. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, die Gegner der Demokratie zu besiegen, dann werden andere europäische Länder folgen.“
Prozess der Russifizierung
In Belarus derweil versucht „Russland, unsere Geschichte und unsere nationale Identität auszulöschen. In Straßennamen werden unsere Nationalhelden durch russische ersetzt. Eine gezielte Politik der Russifizierung. Heute kann man in Belarus festgenommen werden, wenn man Belarussisch spricht – in einem Land mit zwei offiziellen Sprachen. Wir müssen versuchen, unser Erbe zu retten. Das ist derzeit leider nur im Ausland möglich.“
Belarus riskiert, vergessen zu werden, hebt auch Tatiana Termacic vom Europarat hervor. „Die Lage dieser Menschen wird oft nicht verstanden. Das Land ist eigentlich Teil der europäischen Familie … doch es ist zu einem großen Gefängnis geworden.“ Belarus sei dabei das einzige Land Europas, das nie Mitglied im Europarat war. Es ist das einzige Land, in dem die Todesstrafe nicht abgeschafft wurde.
„Belarus steht heute an einer Kreuzung … entweder Freiheit oder Diktatur“, sagt Tikhanovskaia. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es in Belarus zu Veränderungen kommt. Bitte vergesst uns nicht.“ Beim Verlassen des Saales trägt sie wie bereits beim Eintritt, gut sichtbar, das Bild ihres Mannes auf einer Mappe vor sich.
Was sagen Sie zur Debatte um Atomwaffenpositionierung in Belarus?
„Zuallererst will ich daran erinnern, dass Belarus, wie auch die Ukraine, seine Atomwaffen freiwillig an Russland abgegeben hat. Im Gegenzug hatte Belarus damals Sicherheitsgarantien erhalten. Wir wollen, dass die Welt sich jetzt verantwortlich fühlt und klarstellt, dass ein Einsatz einen viel zu hohen Preis mit sich bringen würde.
Ob nun wieder Atomwaffen in Belarus sind oder nicht, wissen wir nicht. Es ist aber eine große Bedrohung für unser Land und für unsere Unabhängigkeit. Russland will uns so Handschellen anlegen und gleichzeitig unsere Nachbarn erpressen. Würden sie genutzt werden, dann würden die Vergeltungsmaßnahmen uns treffen. Russland findet das gut. Deshalb sollen diese Waffen nach Belarus.“
Was ist mit der Situation der Flüchtlinge an den Grenzen, etwa in Polen?
„Was die Sache mit den Flüchtlingen an der polnischen Grenze anbelangt, so ist das ein internationales Verbrechen. Es ist eine Instrumentalisierung von Flüchtlingen. Sie werden als Waffe benutzt. Schlussendlich geht es darum, die Aufmerksamkeit von der Hilfe für die Ukraine abzubringen. Und das wird so lange weitergehen, bis die Diktatur in Belarus vorbei ist. Auch können neue Bedrohungen entworfen werden. Nur ein demokratisches, freies Belarus wird ein sicherer und vertrauenswürdiger Nachbar sein.“
Was muss passieren, damit sich die Lage in Belarus zum Besseren ändert?
„Damit etwas passiert, braucht es zudem einen Trigger, einen Auslöser. Etwas Unerwartetes, ein sogenanntes Schwarzer-Schwan-Ereignis. Das könnte ein Sieg der Ukraine sein, oder etwa eine Veränderung in der belarussischen Elite. Ein Messias?
Wir müssen viele kleine Aktionen vorbereiten. Auch Sabotageakte. Im Jahr 2020 hatte es viele gegeben, etwa bei den großen staatlichen Unternehmen. Die Mitglieder der Streikkomitees sind nun im Gefängnis. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben viele die Eisenbahn ins Visier genommen, um Waffentransporte zu stören. Dabei glaube ich an ein friedliches Vorgehen. Das ist nachhaltiger.
Alle Belarussen sind zum Handeln verpflichtet. Auch brauchen wir Verbündete. Die Demokratien müssen uns helfen. Wir müssen die Medien und die Zivilgesellschaft unterstützen. Wir müssen Alternativen zeigen, den Weg nach Europa. Die Menschen sind vorbereitet. Jetzt müssen wir auf den richtigen Moment warten.“
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