Editorial / Wenn immer mehr Menschen gegen die Demokratie stimmen – ein gefährliches Volk
Am Ende hat die republikanische Front doch noch einmal gehalten. Der Rassemblement national (RN) hat bei den französischen Wahlen die Mehrheit verpasst und wird allem Anschein nach nur als drittstärkste Fraktion ins Parlament einziehen – hinter dem Linksbündnis des Nouveau Front populaire (NFP) und knapp hinter Emmanuel Macrons Regierungspartei Ensemble. Der Schulterschluss gegen die Rechtsextremen, er hat in Frankreich einmal mehr funktioniert. Die Freude darüber wird von kurzer Dauer sein. Denn es stellt sich die Frage: Wie oft wird, wie oft kann das noch funktionieren? Die vergangenen Wahlen – national und europäisch – haben gezeigt: Der Rückhalt des RN in der Gesellschaft war noch nie so groß. Ein beachtlicher Teil der Wahlberechtigten nutzt seine Stimme, um eine Partei zu wählen, die den Grundprinzipien der freiheitlichen Demokratie kritisch gegenüber steht.
Das ist kein französischer Trend. Autoritäre und Autokraten sind auf dem Vormarsch in demokratischen Ländern des Westens. Trump. Die AfD. Die Fratelli d’Italia. Und nicht nur dort. Der aktuelle „Transformationsindex“ der Bertelsmann Stiftung zählt unter den Entwicklungs- und Schwellenländern 63 Demokratien – und 74 Autokratien. So wenig demokratisch regierte Staaten gab es in den vergangenen 20 Jahren nicht. Als Gegenreaktion heißt es nun immer häufiger: Wir müssen unsere Demokratien wehrhafter machen, um sich gegen die Feinde im Innern verteidigen zu können.
Es gibt am Ende dieses Gedankengangs ein ganz grundsätzliches Dilemma und das heißt: das Volk. Demos, das Volk als Souverän, als Quelle der Staatsmacht in der Demokratie. Was, wenn mehr und mehr Menschen in diesem Volk ihr demokratisches Recht nutzen und gegen die Demokratie stimmen? Wenn das Volk zur Gefahr für die Demokratie wird? Um eine berühmte Zuschreibung aus der deutschen Geschichte über die politischen Zustände der Weimarer Republik in die Gegenwart zu holen: Keine Demokratie ohne Demokraten.
Es gibt aus diesem Dilemma wohl genau zwei Wege und sie führen in entgegengesetzte Richtungen. Mehr Demokratie wagen – oder weniger. In Luxemburg ist häufig die Rede von einem Demokratiedefizit. Auch deshalb experimentierte man in der Vergangenheit mit Elementen partizipativer Demokratie – wie zum Beispiel beim Klimabürgerrat. In der wissenschaftlichen Aufarbeitung wurde die demokratiestärkende Wirkung der Bürgerbeteiligung jedoch bezweifelt – aus Repräsentativitätsgründen. Gleichzeitig ist die Volksabstimmung von 2015 noch in frischer Erinnerung, bei der eine Mehrheit gegen das Ausländerwahlrecht und das Wahlrecht ab 16, also gegen mehr Demokratie stimmte.
Der deutsche Politikwissenschaftler Philipp Manow schreibt: „Die vorherrschende Diagnose ist heute eine der elektoralen Selbstgefährdung der Demokratie.“ Und weiter: „Die Demokratie, heißt es daher, ließe sich vor allem durch die Abschwächung ihrer elektoralen Elemente retten – entweder durch die Einschränkung des Wahlrechts oder durch die Abwertung von Wahlen und die Aufwertung deliberativer Elemente“. Klingt sehr danach, dass man selbst zu dem Monster wird, das man eigentlich bekämpfen wollte.
Es ist Aufgabe der Politik, den Menschen zu vermitteln, dass Denkzettel nicht auf Kosten der Demokratie gehen dürfen. Dass sie sich nicht ausschließen müssen, hat die französische Parlamentswahl gezeigt.
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