Editorial / Kulturkampf Olympia: Rechte Stöckchen und kunsthistorische Fehler
Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris hat am Freitagabend nicht nur das Wasser der Seine, sondern gleich den ganzen Bodensatz des globalen Internets aufgewirbelt. Auf X, dem von Elon Musk zur Schlangengrube heruntergewirtschafteten Twitter, mobilisierte am Wochenende eine illustre Glaubensgemeinschaft gegen den Auftritt einiger Dragqueens bei der Eröffnungszeremonie, genauer: gegen deren vermeintlich blasphemische Parodie von Leonardo da Vincis berühmtem Gemälde „Das letzte Abendmahl“ – inklusive eines blau bemalten, spärlich bekleideten Dionysos.
Die Brüder und Schwestern im Geiste reichten von der US-amerikanischen evangelikalen Rechten („Mit Muslimen traut sich das keiner“, jammert ein Südstaatenpfarrer) über rechtsextreme Politiker („Das ist nicht Frankreich“, jammert Marion Maréchal) bis hin zu russischen Chatbots („So schön und klassisch war die Eröffnung von Sotschi 2014“) und den wirklich allerletzten Spinnern („Der Regisseur ist Jude!“). Vereint in ihrer Verachtung für Queerness, mit einer gehörigen Portion Antisemitismus. Die gemeinsame Fallhöhe: Der Westen degeneriert, das Abendland geht unter. Mindestens.
Allein: Den selbsternannten Wächtern der Tugend, Traditionen und besseren Vergangenheit ist dabei ein kleiner kunsthistorischer Fehler unterlaufen. Bei der besagten Dragqueen-Szene handelt es sich gar nicht um eine Reminiszenz an Jesus’ letztes Abendmahl mit seinen Jüngern, sondern einen Verweis auf „Das Festmahl der Götter“ des niederländischen Malers Jan Van Bijlert aus dem goldenen Zeitalter der holländischen Malerei. Macht auch mehr Sinn, weil es bei Van Bijlert um die Götter des Olymps geht.
Upsi. Doch eigentlich spielt das gar keine Rolle. Selbst wenn es sich um eine Darstellung des letzten Abendmahls gehandelt hätte, wäre das immer noch kein Grund, sich in seiner Religiosität angegriffen zu fühlen. Die Ikonografie von „Das letzte Abendmahl“ hat mit Religion heute in etwa so viel zu tun wie Che-Guevara-Shirts mit der Weltrevolution. Soll heißen: Es ist Popkultur, tausendfach zitiert und geremixt – und vielleicht eines der berühmtesten Motive der Menschheitsgeschichte – neben Michelangelos „Die Erschaffung Adams“. Die ganze Litanei mit der verletzten Christenseele verschleiert nur spärlich den eigentlichen Kern: die Ablehnung aller Lebensformen jenseits der traditionellen Ehe von Mann und Frau.
Nun gilt für die Echokammer X sowie für den ehemaligen Kickboxer und wegen Menschenhandel und Vergewaltigung angeklagten Chauvinismus-Influencer Andrew Tate, der vor der französischen Botschaft in Bukarest zum Olympia-Boykott aufrief, das altbekannte Taylor-Swift-Motto: „Haters gonna hate.“ Spinner bleiben Spinner. Zum gesamtgesellschaftlichen Problem aber wird das Ganze, wenn seriöse Kirchenmänner aus der französischen und deutschen Bischofskonferenz über das Stöckchen springen, das die extreme Rechte ihnen hinhält. Auch im Vatikan fühlte man sich auf die Soutane getreten und sah einen „der heiligsten Momente des Christentums“ verhöhnt. Eine Adelung für das rechte Narrativ vom Kampf der Kulturen. Das ist ein weiterer Schritt für Intoleranz, Paranoia und Hass in Richtung gesellschaftlicher Mitte.
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