Editorial / Gelingt Kiew ein Wandel im Kriegsverlauf?
Die Ukrainer haben Putins Krieg gegen ihr Land nach Russland getragen. Seitdem wird darüber spekuliert, welche Ziele die Führung in Kiew mit diesem ebenso gewagten wie überraschenden Zug verfolgt. Einiges wurde schon erreicht: Während die Ukraine im Osten nach wie vor in der Defensive ist, hat sie mit dem Vorstoß auf russisches Gebiet ein offensives Moment geschaffen, das sich vorteilhaft auf die Moral nicht nur der ukrainischen Soldaten auswirken dürfte. Düpiert wurden auch der Machthaber im Kreml und seine Riege, die versuchen, die sich ausweitende Schmach kleinzureden und sie vor der eigenen Bevölkerung zu vertuschen. Deshalb sollen unter anderem die aus der Region Kursk evakuierten Menschen in besetzte ukrainische Gebiete gebracht werden, damit ihr Schicksal möglichst wenigen Landsleuten bekannt wird.
Ob das Ablenkungsmanöver gelingen wird und Moskau Truppen von der Ostfront abzieht, um sie im eigenen Land einzusetzen; ob noch weitere russische Gebiete besetzt und über einen längeren Zeitraum gehalten werden können, um sie als eventuelle Verhandlungsmasse zu verwenden – das ist alles derzeit noch nicht abzusehen. Immerhin aber haben die Ukrainer gezeigt, dass sie trotz ihrer schwierigen Situation im Osten des Landes nach Wegen suchen, um sich gegen die übermächtigen Invasionstruppen zu behaupten. Die militärische Unterstützung, das soll die Offensive wohl vor allem den westlichen Verbündeten zeigen, kann sehr wohl etwas bewirken. Solange sie in ausreichendem Maße und beizeiten bereitgestellt wird. Was offensichtlich noch immer nicht der Fall ist.
Eine Eskalation ist die ukrainische Offensive keineswegs. Es ist lediglich die territoriale Verlagerung eines Krieges, den die Ukraine – wie das restliche Europa – nie gewollt hat und so schnell wie möglich zu fairen Bedingungen beendet wissen will. Dass bei dem Vormarsch auf russisches Gebiet auch westliche Waffen verwendet werden, wird selbst in Deutschland nur noch von Teilen der politischen Klasse kritisiert. Doch bei allem Respekt vor dem hohen Verantwortungsbewusstsein, das die Deutschen angesichts ihrer Geschichte leitet: Es sind nicht die Panzer von Nazi-Deutschland, die da auf Kursk vorrücken. Es ist die Bundesrepublik Deutschland, die der Ukraine unabdingbares militärisches Material für ihren Abwehrkampf gegen einen brutalen Aggressor bereitstellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied, den eigentlich auch Leute wie Sahra Wagenknecht erkennen müssten. Wenn sie es nicht vorziehen würden, der Kreml-Propaganda zu folgen.
Und noch etwas wird im Zuge dieses neuen Momentums in diesem sinnlosen Krieg abermals deutlich: Der russische Machthaber ist nicht an Verhandlungen mit Kiew interessiert. Er begründet dies mit der zynischen Bemerkung, die Ukraine würde „wahllos Zivilisten und zivile Infrastruktur angreifen“ – nachdem die russischen Truppen in den vergangenen zweieinhalb Jahren in der Ukraine vor allem auch unzählige zivile Einrichtungen zerstört und Tausende Zivilisten umgebracht haben.
Ob es der Führung in Kiew dennoch gelingen wird, mit ihrer Offensive einen Wandel zu ihren Gunsten – nicht nur im Kriegsverlauf, sondern auch im Hinblick auf Verhandlungen – zu erreichen, ist zu hoffen, dürfte aber eher unrealistisch sein. Zumindest jedoch versuchen die Ukrainer, die Bedingungen dafür zu schaffen.
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