Jazz / Helmut Lörscher im Gespräch: „Vielleicht komponiere ich irgendwann trotzdem noch einen Wozzeck-Groove“
Er ist Pianist, Komponist und Improvisationskünstler: Helmut Lörscher. Im Interview mit dem Tageblatt spricht er über „Triosonate“ – das neue Album seines Trios – und das Zusammentreffen von Jazz auf Klassik.
Tageblatt: Nach Badinerie und Tristanesque ist vor kurzem das dritte Album Triosonate des Helmut-Lörscher-Trios erschienen, das sich erneut auf jazzige Weise mit klassischen Werken auseinandersetzt. Doch was ist dieses Mal anders?
Helmut Lörscher: Die beiden ersten Alben waren sogenannte „reflexions in jazz“, wo wir uns einmal der Musik von Johann Sebastian Bach und einmal der von Richard Wagner angenommen hatten und versucht haben, diese in den Jazz zu übertragen. Bei Triosonate gibt es jetzt keinen expliziten Paten. Im Mittelpunkt des Albums steht die von mir komponierte Sonata à tre, ein Stück, das ganz in der Tradition der klassischen Sonate komponiert ist, sich aber hier der Elemente und der Sprache des Jazz bedient und dabei trotzdem auf barocke Satztechniken zurückgreift. Es ist also ein Stück, das formal in der Klassik zu Hause ist, nicht aber sprachlich. Es gibt zwei Fassungen dieser Sonate, die hier eingespielte für Jazz-Trio, also Klavier, Bass und Schlagzeug, und eine für Jazz-Trio und Streichquartett. Dies war eigentlich eine Idee vom Vogler-Quartett, mit dem wir diese Fassung dann auch mehrmals gespielt haben.
Gibt es klassische Stücke, die sich besonders gut für Jazz-Bearbeitungen eignen?
Grundsätzlich eignet sich dafür jedes musikalische Thema und demnach ist es möglich, fast alles in die Sprache des Jazz zu übersetzen. Es ist einfach eine spannende Art, ein Musikstück oder eine Melodie weiterzudenken und sie aus ihrem strengen Regelwerk auf eine andere Ebene zu holen. Es gibt natürlich Musik, die sich besonders gut eignet, wie die Stücke von Bach oder die Impressionisten Debussy und Ravel. Ravel selbst hatte ja ein gutes Verhältnis zum Jazz und dies dann auch in seinem G-Dur-Klavierkonzert benutzt. Das ist vor allem seiner Beziehung zu Gershwin und seiner Musik zu verdanken. So ist beispielsweise Gershwins Porgy & Bess eine wirkliche klassische Oper, die sich der Rhythmen und Themen des Jazz bedient, aber auf keinen Fall ein Musical, wie das oft fälschlicherweise noch gesehen wird.
Überhaupt scheint Gershwin sehr wichtig für diese Entwicklung im Jazz gewesen zu sein.
Oh ja, dank Gershwin, der ja wie kaum ein anderer beide Welten, also Jazz und Klassik, miteinander vereinte und somit eine singuläre Rolle spielte, begannen viele Jazz-Größen auf einmal klassische Werke zu bearbeiten und zu spielen. In den zwanziger und dreißiger Jahren waren das Duke Ellington und Benny Goodman, später dann auch Stéphane Grapelli. Aber es waren wohl Miles Davis 1959 mit seinem Arrangement von Rodrigos Concierto de Aranjuez und Jacques Loussier Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre mit seinen legendären Play-Bach-Alben, die die Jazz-Bearbeitungen klassischer Werke populär machten. Später hat Loussier sich dann auch noch der Musik von Kurt Weill, Frédéric Chopin, Vivaldi, Händel, Debussy und noch anderen angenommen.
Was ist denn das Schwierige an einer guten Bearbeitung?
Hier gibt es keine festen Verfahrensanweisungen oder Regeln. Für mich sind zweierlei Dinge besonders wichtig: Man muss das Originalwerk kennen und sich damit auseinandersetzen. Es genügt nicht, eine Melodie nachzuspielen und einen Rhythmus dazu zu erfinden. Man muss wissen, wie das Stück komponiert ist, muss Melodien, Nebenstimmen, Atmosphäre, Klangfarben und natürlich die Kompositionstechnik kennen. In anderen Worten, man muss dem Original würdigend gegenüberstehen. Die Bearbeitung soll respektvoll und fantasievoll sein, soll neue Aspekte des Originals aufzeigen und alle vorhandenen Möglichkeiten der Jazzsprache beleuchten. Es ist natürlich etwas ganz anderes, ob man für Solo-Klavier, ein Trio oder eine Brassband komponiert. Eine Bearbeitung darf nicht downsized sein und die Musik schlecht reproduzieren. Es genügt nicht, ein Stück jazzig einzufärben, um es interessant, originell und wertvoll zu machen.
Auf Ihrem Album steht die 15 Minuten dauernde Sonata à tre ja im Mittelpunkt. Um sie gruppieren sich dann sehr unterschiedliche Stücke.
Genau, wir wollten uns ja diesmal nicht auf einen Komponisten festlegen, sondern Stücke aufnehmen, die schon jahrelang zu unserem Repertoire gehören, wir aber noch nicht aufgenommen haben. Dabei ist der Bogen weit gespannt. Wir haben da z.B. einen Choral von Philipp Nicolai aus dem Jahre 1597 und die Passacaglia, der eine Zwölftonreihe zugrunde liegt, die von unserem Bassisten Bernd Heitzler in unerbittlicher Strenge immer wiederholt wird. Dann gibt es Inventio und Bolero Italien von Bach sowie Originalstücke von mir. Wobei sich die Herangehensweise bei Inventio und Bolero Italien wesentlich voneinander unterscheiden. Beim Bolero bleiben wir sehr nahe am Original und bereichern ihn mit einem afro-kubanischen Groove und einem improvisierten Mittelteil, während bei Inventio die Bezüge nur angedeutet werden und die Jazzmusik sich so sehr fantasievoll entwickeln kann. Die Improvisation hat es übrigens schon im 18. Jahrhundert gegeben, ist dann aber nach und nach in den Hintergrund gerückt.
Im 18. Jahrhundert gehörte die Improvisation zum guten Ton eines jeden Konzerts und jeder Komponist war meistens auch ein Meister der Improvisation. Diese war ja nichts anderes als ein Spot auf den Solisten, der hier glänzen konnte.Musiker
Wenn man Ihre Stücke hört, so stellt man fest, dass sie mit durchschnittlich 5 Minuten doch recht kurz sind. Welche Rolle spielt also die Länge eines Stücks für Sie?
Da muss man zwischen Studioproduktion und einem Live-Konzert unterscheiden. Bei einer Studioaufnahme ziehe ich kompakte Kompositionen vor, die sich in einem stimmigen Zeitraum auf das Wesentliche konzentrieren. Im Konzert streuen wir natürlich viele Soli ein, dann dürfen sich Bernd Heitzler, Bass, Matthias Daneck am Schlagzeug und ich am Klavier schon mal im Improvisieren austoben. Jazz zu spielen, heißt ja auch, in permanentem Kontakt mit dem Publikum zu sein und zu interagieren. Dies ist bei einer Studioaufnahme nicht der Fall.
Kommen wir noch einmal auf die historische Entwicklung der Improvisation zu sprechen …
(lacht) Oh, dieses Thema würde ein ganzes Seminar ausfüllen. Aber ich versuche, die Frage kurz zu beantworten. Bereits die Kastraten und die Sänger in der frühen italienischen Oper haben hier als da capo eine ganze Triade an vokalen Kunststücken abgelassen. Im 18. Jahrhundert gehörte die Improvisation zum guten Ton eines jeden Konzerts und jeder Komponist war meistens auch ein Meister der Improvisation. Diese war ja nichts anderes als ein Spot auf den Solisten, der hier glänzen konnte und in kunstvoller Manier noch einmal die Themen des gespielten Werkes Revue passieren ließ, indem er sie verzierte und damit spielte. Somit war dies schon ein Vorläufer der Jazz-Improvisation. Im 19. Jahrhundert rückte die strenge Kompositionsform mit ihren Regeln in den Vordergrund und verdrängte die Improvisation in die sogenannten „Salons“, wo dann Komponisten wie Franz Liszt und Jacques Offenbach sich eine Freude daraus machten, Bearbeitungen aus Opern und Operetten zum Besten zu geben. Klassische Komponisten komponierten zwar noch Kadenzen, die früher frei improvisiert, jetzt aber niedergeschrieben wurden.
Um die Jahrhundertwende hatte sich dann die Improvisation verflüchtigt, insbesondere in der modernen Musik der 2. Wiener Schule und natürlich auch in der zeitgenössischen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie keinen Platz mehr. Verständlich, man strebte damals eine andere Art von Musik an. Auch der Perfektionismus und die Trennung der Disziplinen sowie die sogenannte Werktreue unterbanden im 20. Jahrhundert die Kunst des Improvisierens. Erstaunlicherweise wurde sie in den 80er Jahren gerade durch die Musik-Pädagogik wieder interessant, wo die Aspekte der Improvisation dann wieder an Bedeutung gewannen.
Sie haben kurz die 2. Wiener Schule und die zeitgenössische Musik angesprochen. Kann man sich denn vorstellen, ein Werk von Schönberg oder Berg zu verjazzen?
Also ich kann mir das für mich persönlich nicht vorstellen. Es muss bei der Musik melodische, motivische oder strukturelle Verankerungen geben, mit denen man im Sinne des Jazz spielen kann. Auf Anhieb sehe ich das momentan nicht, wo man hier jetzt einen glücklichen Angriffspunkt finden könnte. Schönberg, Berg, Webern, Boulez, sie haben alle keine Musik zum Mitsingen oder Nachpfeifen geschrieben, im Gegenteil, sie wollten ja weg davon. Und in diesem Falle ist es schwierig, hier eine tragfähige, jazzige Idee zu finden. Aber ehrlich gesagt, ich habe mir diese Frage bis jetzt noch nie gestellt und sollte es vielleicht wirklich tun. Vielleicht komponiere ich dann trotzdem noch irgendwann einen Wozzeck-Groove. (lacht)
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