Filmkritik / „Tatami“: Der Nahost-Konflikt auf einer Reismatte
Mit „Tatami“ setzt ein israelisch-iranisches Regieduo ein Statement. Das packend inszenierte, bedrückende Sport-Drama ist ein Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung.
Dass im Sport auf dem internationalen Parkett faire Regeln und Neutralität gelten, ist zwar ein hochgehaltener hehrer Grundsatz, doch leider nicht die Realität. Der Wolfsgruß des türkischen Fußballspielers Demiral bei der EM sorgte zuletzt für Aufregung und zeigt einmal mehr, dass Sportler:innen nicht gefeit sind vor nationalistischer Ideologisierung.
Was aber, wenn die eigene Nation, ein Regime, Sportler:innen massiv unter Druck setzt und einschüchtert, um Siege oder Niederlagen zu erwirken? Diese Frage stellt das Regie-Duo Guy Nattiv und Zar Amir Ebrahimi mit „Tatami“. Der Spielfilm feierte im letzten Jahr bei den 80. Filmfestspielen in Venedig Premiere.
Dass ein Israeli und eine Iranerin gemeinsam Regie führen, ist in diesen Tagen, in denen der Krieg in Gaza noch immer tobt und noch immer über 100 Geiseln von der terroristischen Hamas gefangen gehalten werden, ein kleines Wunder.
Dass ein Israeli und eine Iranerin gemeinsam Regie führen, ist in diesen Tagen, in denen der Krieg in Gaza noch immer tobt und noch immer über 100 Geiseln von der terroristischen Hamas gefangen gehalten werden, ein kleines Wunder
Der in Los Angeles lebende Israeli Guy Nattiv, dessen Biopic „Golda“ über die ehemalige Ministerpräsidentin Golda Meir auch auf dem Luxfilmfest 2023 gezeigt wurde, hatte Zar Amir Ebrahimi, die als Hauptdarstellerin von „Holy Spider“ auf dem Filmfest Cannes ausgezeichnet worden war, zunächst nur für die Rolle der Trainerin vorgesehen, ihr aber dann die Co-Regie angeboten. Auch „Holy Spider“, in dem Amir Ebrahimi eine Journalistin im Iran spielt, die Frauenmorden nachgeht, war bereits ein politisches Statement gegen das Mullah-Regime. „Tatami“ ist ihr Debüt als Regisseurin.
Anfangs wird von oben auf die Stadt Tiflis hinunter gefilmt. Eine Seilbahn führt idyllisch wie auf einem Postkartenmotiv in die Berge; inmitten der Stadt das Olympia-Stadium, zentraler Austragungsort der Judo-Weltmeisterschaften.
Felder und graue Plattenbauten sieht man durch die Fenster eines Reisebusses. In der letzten Reihe lümmelt Profi-Judoka Leila Hosseini (Arienne Mandi). Abwesend starrt sie aus dem Fenster und hört Musik. Die dicken Kopfhörer über ihren Schleier gezogen, erklingt „Jet“ der iranischen Underground-Rapperin Justina. Deren Stimme wurde insbesondere nach der gewaltsamen Ermordung Mahsa Aminis über soziale Netzwerke bekannt.
Gemeinsam mit einem weiblichen Team aus Teheran und ihrer Trainerin Maryam Ghanbari (Regisseurin Zar Amir Ebrahimi) fährt die junge Profi-Sportlerin zum Sportpalast. Dort herrscht ein emsiges Treiben, Judo-Sportler:innen wärmen sich hier auf und man kann den Schweiß und die Anspannung der Wettkämpfe förmlich durch die Leinwand riechen.
Gleich zu Beginn läuft Leila ihrer Kollegin Shani Lavi (Lir Katz) aus Israel in die Arme. Die Begegnung der beiden ist freundschaftlich – ohne jedes Ressentiment. Leila erzählt von ihrem kleinen Sohn, den sie in der Obhut ihres Mannes Nader (Ash Goldeh) im Iran gelassen hat, Shani berichtet ihr unbefangen, dass sie selbst wieder Single sei, Beziehung und Leistungssport seien eben nur schwer vereinbar.
Leilas Trainerin beobachtet den Austausch mit Argwohn. Iran und Israel sind politische Erzfeinde und der Kontakt zwischen beiden Nationen ist unerwünscht.
Sportmikrokosmos
In mitunter klaustrophobischen Schwarz-Weiß-Bildern hält Kameramann Todd Martin den Mikrokosmos im Sportpalast von Tiflis in über 100 Minuten kammerspielhaft fest, grandios untermauert von der Musik der deutschen Filmkomponistin Dascha Dauenhauer. Die Kamera zoomt ganz nah an die Kämpfe ran, die aufgeheizte Wettkampfstimmung überträgt sich. Das ist filmisch gelungen und wird nur hin- und wieder geschmälert durch bisweilen etwas kitschige Rückblenden auf Szenen, die Leila verliebt mit ihrem Mann im Iran vor dem Wettkampf zeigen.
Nachdem Leila sich in Windeseile die überflüssigen Pfunde für ihre Gewichtsklasse auf dem Heimtrainer abtrainiert hat, stürmt sie hochmotiviert und angespornt von ihrer Trainerin in die Arena und besiegt auf der Matte mit präziser Kampftechnik eine Gegnerin nach der nächsten. Ihr Mann und ihre Freunde verfolgen das Geschehen vor dem Fernseher im Iran und feuern sie enthusiastisch an.
Rasch werden die anwesenden Funktionäre des Regimes in Teheran nervös und beginnen die Trainerin unter Druck zu setzen, üben telefonischen Psycho-Terror auf sie und Laila aus und drohen ihnen damit, ihren Familien etwas anzutun … Um nicht gegen die Israelin Shani anzutreten und eine Niederlage gegen Israel zu verhindern, soll Leila eine Verletzung vortäuschen und freiwillig ausscheiden.
Doch Leila ist wild entschlossen, bis zum Schluss zu kämpfen (sie ist in Tiflis, um die Goldmedaille für den Iran nach Hause zu bringen), und scheut die Konfrontation mit dem Regime nicht. In einer symbolischen Geste wird sie sich irgendwann nach Luft schnappend den Hijab vom Kopf reißen; mit diesem Widerstand setzt sie ihre gesamte Existenz und die ihrer Trainerin aufs Spiel.
Die angespannte Atmosphäre des Films steigert sich zu einem Crescendo, als Leila dem Finale immer näherkommt und mehrere Angriffe auf der Matte siegend durchsteht, während die Funktionäre der Regierung und der Rest ihres Teams sie immer mehr unter Kontrolle zu bringen versuchen. Der dynamische Schnitt von Yuval Orr hält das Geschehen in Bewegung und wechselt zwischen verschiedenen Blickwinkeln – während Martins umherschweifende Kamera in und aus dem Ring führt, obschon der Großteil des Films an ein und demselben Ort, dem olympischen Sportpalast spielt.
Hosseini wird schließlich gezwungen, für den Ruhm des Irans die Niederlage zu erklären. Sie weigert sich jedoch weiter beharrlich, gewinnt einen Kampf nach dem anderen und erhöht damit den Druck auf ihre Trainerin Maryam und ihre Familie zu Hause. Ihre Entscheidung macht „Tatami“ zu einer fesselnden Geschichte über Frauen gegen Männer, Sportler:innen mit Moral und Kampfgeist gegen misogyne Regierungsbeamte und deren Unterdrückung.
Beklemmend überträgt sich die von den iranischen Funktionären ausgehende Einschüchterung und man fiebert bis zum Schluss mit der hin- und hergerissenen Hauptfigur Leila (die chilenisch-iranische Arienne Mandi spielt hervorragend!) mit. Ihr innerer Konflikt wird greifbar. Die schwarz-weiße Einrahmung des Geschehens wirkt zusätzlich erdrückend.
Plädoyer für Selbstbestimmung
Der Film ist inspiriert von realen Begebenheiten. Sportler:innen aus dem Iran setzten sich in den vergangenen Jahren mehrfach über Verbote des Mullah-Regimes hinweg und mussten anschließend ins Exil gehen. Einige wurden später Teil eines Flüchtlings-Judoteams und traten bei Wettkämpfen an.
„Tatami“ ist somit nicht nur ein packender Sport-Thriller mit präzise inszenierten Judokämpfen und ein Polit-Thriller um strukturelle Unterdrückung, sondern auch ein Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau wie des Individuums, aber vor allem der eigenen Verantwortung und der individuellen Freiheit. Das Filmprojekt zeigt eindrucksvoll, wie Kunst politische Feindschaften und ideologische Gräben überwinden kann und wie unsinnig Maßnahmen wie „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) sind, die Künstler:innen einer Nation kollektiv für die politische Führung ihres Landes sanktionieren.
Der Film läuft aktuell im Ciné Utopia.
Infos zum Film
„Tatami“, Thriller, 1h43
Regie: Zar Amir Ebrahimi und Guy Nattiv
Drehbuch: Elham Erfani/Guy Nattiv
Mit: Arienne Mandi, Zar Amir Ebrahimi, Lir Katz, Jaime Ray Newman
Georgien/USA
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