Editorial / Europa sucht den Superpatrioten
Hilfe, der Vorzeigepatriot Matteo Salvini ist in Gefahr: Am vergangenen Samstag drohte die Staatsanwaltschaft in Palermo dem italienischen Vize-Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der rechtspopulistischen Partei „Lega“ mit sechs Jahren Haft. Er muss sich wegen Pflichtverletzung und Geiselnahme verantworten. Weshalb? Salvini behauptet in den sozialen Netzwerken: „Sechs Jahre Gefängnis dafür, dass ich Landungen gestoppt und Italien und die Italiener verteidigt habe? (…) Italien zu verteidigen ist kein Verbrechen und ich werde niemals nachgeben.“ Er macht damit von der Superkraft rechtspopulistischer Politiker*innen Gebrauch – dem Verbreiten von Halbwahrheiten.
In Wirklichkeit steht Salvini aus folgenden Gründen vor Gericht: 2019 verweigerte er dem Rettungsschiff „Open Arms“, Hunderte auf See gerettete Migrant*innen im Hafen von Lampedusa von Bord zu lassen. Obwohl sechs EU-Mitgliedstaaten – darunter auch Luxemburg – ihre Aufnahme bewilligt hatten. Salvini beschuldigte die „Open Arms“ und andere NGOs vor Ort, den Menschenhandel zu begünstigen, und hielt mehrere Wochen an seinem Entschluss fest. Wochen, in denen die Menschen vor dem Hafen feststeckten.
Die Staatsanwaltschaft hält Salvini deswegen den Bruch mit internationalen Konventionen vor und betont: Grenzschutz dürfe die Menschenrechte nicht verletzen. Darüber hinaus habe die Schiffsbesatzung nicht gegen geltende Gesetze verstoßen. Sachliche Argumente also, die Salvinis Anklage legitimieren.
Sich in dem Zusammenhang als armes, patriotisches Würmchen mit guten Absichten aufzuspielen, ist ein Armutszeugnis. Salvini gießt mit dieser Inszenierung weiter Öl ins Feuer unzufriedener Bürger*innen, die in rechten bis rechtsextremen Parteien bedauerlicherweise einen Hoffnungsschimmer sehen. Salvini ist der große, unverstandene Samariter Italiens – die NGOs, die Menschen in Seenot, die Staatsanwaltschaft sind die Bösewichte, an denen das geliebte Heimatland zugrunde geht. Eine beunruhigende Diskursverschiebung, durch die potenzielle Menschenrechtsverbrecher*innen grundlos zu Superheld*innen werden.
Unterstützung erhält Salvini von Europas Rechten: Neben Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zeigten sich u.a. die französische Abgeordnete Marine Le Pen (Front National) und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban (Fidesz) solidarisch. Orban ehrte Salvini gar als „Europas mutigsten Patrioten“. Was Luxemburgs Premierminister Luc Frieden (CSV) wohl dazu sagt, der sich erst vergangene Woche mit Orban traf? Meloni stuft die mögliche Haftstrafe gegen Salvini jedenfalls als „gefährlichen Präzedenzfall“ ein; Le Pen hält den Prozess für „alarmierend angesichts der zunehmenden Belastung durch Migranten in (…) Europa“.
Deutlich beunruhigender ist es doch vielmehr, wie stark Europas Rechte zusammenrückt und zur Zementierung ihrer menschenfeindlichen Positionen keinen Halt vor Gesetzen und besiegelten Abkommen macht. Auch Luxemburg mischt mit. Anfang September offenbarte Alexandra Schoos, Parteipräsidentin der ADR, auf RTL: Sie hat keine Angst vor dem Aufstieg der in Teilen gesichert rechtsextremen AfD in Ostdeutschland. Rechtsextreme dürften regieren, immerhin seien sie demokratisch gewählt worden.
Eine Unverfrorenheit, die fast schon satirische Züge annimmt. Zum Lachen ist das Ganze allerdings nicht. Es regt vielmehr zu einem lauten, wutentbrannten „Merde alors!“ an – frei nach Jean Asselborn (LSAP), der Salvinis Gefasel bereits 2018 mit diesem Spruch quittierte.
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