Lust zu lesen / „Wüstenstern“ und „Die Spielerin“: Weder trocken noch unbedeutsam
Ein Polizist in Rente legt los; eine vermeintlich unscheinbare Frau steht vor Gericht: Lohnt sich die Lektüre von „Wüstenstern“ und „Die Spielerin“? Zwei Literaturkritiken.
„Wüstenstern“: Keine trüben Aussichten
Nicht genug, dass ein Autor seinen Serienhelden mit Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben nicht im verdienten Ruhestand belässt, er zerrt ihn wieder und wieder zurück in die Profession, für die er ausgebildet, für die er viele Gefahren ausgestanden und im Privatleben Opfer gebracht hat. Genau wie der pensionierte Kriminalinspektor John Rebus des Schotten Ian Rankin kann der U.S.-amerikanische Schriftsteller Michael Connelly seinen Protagonisten Harry Bosch nicht einen ältlichen, mit leichtem Bäuchlein versehenen Privatier bleiben lassen.
Aus gutem Grund. Denn die Aussichten könnten trüber nicht sein: Zu Beginn von „Wüstenstern“, Connellys neuestem Kriminalroman, sitzt Bosch, von Nachbarn als „übellauniger Ex-Cop“ beargwöhnt, vor diesen blauen Pillen. Wirklich, so ein Rentnerdasein ist nichts für Feiglinge! Und weil er nicht mehr vom Tag zu erwarten hat als Pillen, wundert sich Bosch nicht schlecht, als es an der Haustüre läutet und seine Ex-Kollegin Renée Ballard mit einem überaus verlockenden Angebot aufwartet.
Rentner auf Fehlersuche
Im LAPD – dem Los Angeles Police Department – wurde entschieden, dass sich eine neue Abteilung alten, ungelösten Fällen widmen wird. Harry Bosch soll unter Ballards Leitung Teil eines Teams werden, in dem keine frischen Kräfte, sondern alte Hasen mit über Jahrzehnte angehäuftem Know-how sich einer schier unlösbaren Aufgabe widmen werden: bereits ermittelte Fälle, die in sogenannten „Mordbüchern“ abgelegt wurden, ans Tageslicht zu zerren und nach irgendwelchen Schwachstellen abzuklopfen. Wurde wirklich sauber gearbeitet, gab es Abkürzungen oder gar grobe Fehler, die sich damalige Kollegen zuschulden kommen ließen?
Bosch selbst hat so einen Fall sozusagen als Leiche im Keller: Eine ganze Familie wurde ausgelöscht und in der Mojave-Wüste verscharrt. Einen Tatverdächtigen gab es seinerzeit zwar, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Renée Ballard lockt Bosch mit der Aussicht, gerade an dieser ungeklärten Mordsache weiterarbeiten zu können.
Im Grunde geht es in „Wüstenstern“, neben den obligatorischen Nebenhandlungen und Schlenkern, die den Hauptstrang der Geschichte über mehrere Hundert Buchseiten attraktiv halten sollen, um die Aufklärung dieses mysteriösen Falles. Berühmt wurde Michael Connelly durch seinen staubtrockenen Erzählstil, mit dem er an die gloriosen Tage der amerikanischen Hard-Boiled-Krimis anschließt– was auch mit „Wüstenstern“ wieder ausgezeichnet funktioniert!
„Die Spielerin“: Citizen A.
Man kennt solche Bücher, nach der großen Bankenkrise 2007/2008 erschienen sie gehäuft. Aber aus einer feministischen Sicht auf das Schachern und Abzocken im Finanzwesen sowie die Wahrnehmung von Frauen dabei haben nur wenige geschrieben – Isabelle Lehn versucht es nun mit ihrem Roman „Die Spielerin“: Dort steht eine Frau vor Gericht.
Die Autorin verrät nur den Anfangsbuchstaben ihres Namens – A. Worum es in der Anklage geht, bleibt lange im Ungewissen. Was nicht zuletzt auch damit zu tun hat, dass die Angeklagte konsequent die Aussage verweigert. Denn „lieber will sie die Leerstelle bleiben, der blinde Fleck im System, den sie jahrelang dargestellt hat (…) Es könnte kein besseres Versteck für A. geben. Und auch wir, die wir im Publikum sitzen, um ihr Schweigen zu garantieren, sind schon gespannt, welche Umrisse sich abzeichnen werden.“
Frau von nebenan
Offensichtlich ist A. in die Insolvenz der Nachrichtenagentur DNA (Deutsche Nachrichtenagentur) verstrickt, und um Näheres zu erfahren, tauchen eine Reihe von Menschen auf, die mit ihr teils ganz entfernt etwas zu tun hatten, teils ganz dicht an ihr dran waren. Es treten nacheinander auf: DNA-Redakteur Thorsten Aichinger, die Mutter eines Bauerntölpels in der Eifel, dann DNA-Herausgeber Peter Prinz und DNA-Consultant Joachim Oldenbrink. Später taucht noch der Journalist Albert Jacobi auf, und sie alle zeichnen mal mehr, mal weniger dezidiert, ein Bild von A., als wäre sie die Unscheinbarkeit in Person, ein geradezu „durchsichtiger Mensch“.
Man kennt diese Auftritte als eine Form von Erzählstruktur aus Orson Welles’ berühmten Spielfilm „Citizen Kane“ (1941), wo ganz ähnlich versucht wird, mithilfe eines Bündels an Aussagen die mysteriöse Persönlichkeit der Titelfigur zu entschlüsseln. In Isabelle Lehns Roman „Die Spielerin“ geht es nicht um einen Medienmogul, sondern um eine scheinbar einfache Frau in mittleren Jahren, die halbtags bei besagter Nachrichtenagentur in der Akquise arbeitet, und bei ihrem Kollegen Oldenbrink vorn im Haus in einer kleinen Wohnung über einer Kneipe wohnt. Dort trifft er sich gelegentlich mit seiner Nachbarin auf einen Drink. Die beiden entwickeln Sympathien füreinander.
Und die Art, wie er A. und seine Sympathien für sie beschreibt, ist eines der Schmuckstücke des Romans. Denn so gemein, so von oben herab, so vor Selbstüberschätzung triefend ließ man bislang selten eine männliche Romanfigur über eine Frau und somit eigentlich auch über Frauen allgemein richten.
Von wegen unscheinbar!
Oldenbrink ist derjenige, der dem Unheil erst auf die Sprünge hilft, was letztendlich die Nachrichtenagentur DNA in die Pleite und A. auf die Anklagebank führen wird. Um was genau es geht, soll selbstverständlich nicht verraten werden. Offenbar wollte sich A. zu einer Position aufschwingen, die literarische oder cineastische Figuren erst erreichen müssen, bevor man über sie Romane schreibt und Filme dreht. Auch das zeichnet Isabelle Lehns „Spielerin“ aus, ihr Plädoyer für die Beachtung und Achtung sowohl scheinbar unbedeutender Personen wie ebensolcher unbedeutender Momente.
Mit diebischem Witz versteht es die Autorin, gewisse Blickhierarchien zu dekonstruieren. Wenn A. – um im gleichen Beispiel zu bleiben – sich kurz in der Kneipe von Oldenbrink entfernt, um ein Telefonat zu führen, wähnt er aus der Entfernung ein Blackberry-Mobile in ihren Händen (die Handlung des Romans umspannt die frühen 1990er bis 2007). Aber da nicht sein kann, was nicht sein darf, dass also die Telefonistin A. mit gleichem Werkzeug wie er, der Top-Manager, kommuniziert, übersieht Oldenbrink die durchaus vorhandenen Zeichen, die ihm den eigenen Untergang ankündigen. A. ist alles andere als unscheinbar, sondern grundgefährlich!
Stand in der ersten Hälfte des Romans die Story einer jungen Frau im Mittelpunkt, die nicht in der Provinz versauern, stattdessen lieber im von Männern beherrschten internationalen Finanzsektor Karriere machen will, wird durch die Konkretisierung des „Wir“ als eine der erzählerischen Instanzen aus der „Spielerin“ ein Kriminalstück mit bekannten Ingredienzen, die dennoch anders als gewöhnlich verrührt werden. Was bleibt als Moral von der mit großem Vergnügen zu lesenden Geschichte? Unterschätze niemals die Unscheinbaren, schon klar. Und: Mache deine Feinde zu Partnern, was aber eher als unmoralisches Angebot der Autorin Isabelle Lehn an ihre Leserinnen und Leser zu werten ist.
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