Antiziganismus / Roma in Luxemburg: Eine lange Geschichte der Ausgrenzung
Die Politik der „neuen Härte“ in vielen Ländern Europas bekommen nicht zuletzt auch Minderheiten wie die Sinti und Roma zu spüren. Der Antiziganismus ist seit jeher eine weit verbreitete Form der Diskriminierung, die nun zugenommen hat.
Florin ahnt Böses. Sie haben Timur geschnappt, seinen kleinen Bruder. Eigentlich wollten wir uns in Hollerich treffen. Doch Florin ruft mich an und sagt, er könne nicht zur verabredeten Zeit zu unserem Treffpunkt kommen. Timur ist minderjährig. „Ich fühle mich für ihn verantwortlich“, sagt Florin. Er sei vor ein paar Monaten nach Luxemburg gekommen, um ein paar Geschäfte zu erledigen, hat er mir erzählt. Um welche Geschäfte es sich handelt, sagt er mir nicht. Zusammen mit ihrer Schwester Malina und deren Mann würden Timur und er bei einem Cousin in der Nähe von Longwy wohnen, erklärt er. Täglich kommen sie nach Luxemburg und betteln. „Ein paar Mal hatte ich schon eine Arbeit auf einer Baustelle, doch das war nur für kurze Zeit“, fügt der junge Mann mit dem Stoppelbart hinzu.
Es ist nicht unser erstes Treffen. Das hatte am Bahnhof stattgefunden. Damals war Malina dabei. Die junge Frau hatte einen Becher vor sich stehen. Sie sagte, sie habe ein Baby, das bei den Großeltern in Rumänien geblieben sei. Es sei krank. Ob ihre Geschichte wahr ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich ertappe mich dabei, wie ich daran zweifle, was sie sagt. Und wie ich in die Falle aus rassistischen Klischees, Stereotypen und Vorurteilen stolpere, die den Roma anhaftet. In die Falle des Antiziganismus, in die ein großer Teil der Menschen der Mehrheitsgesellschaft tappt, wenn es um Sinti und Roma geht.
Etliche Male habe ich über die Roma geschrieben, lange über sie recherchiert, war mit einem befreundeten Fotografen zu den Camps der Roma-Familien ins französische Grenzgebiet gefahren, wo sie abseits der Städte in Baracken oder in Wohnwagen hausten. Ich reiste zum Roma-Treffen nach Grostenquin bei Saint-Avold, wo jene Roma, die der Pfingstkirche „Vie et lumière“ angehören, häufig ihre jährlichen Treffen abhalten. Viele der über 300.000 in Frankreich lebenden Roma, die nicht katholisch sind, bekennen sich zum evangelikalen Glauben.
Johnny und Tarzan
Unvergesslich ist für mich das riesige Wohnwagenlager auf dem ehemaligen Militärgelände. In der Mitte stand ein großes Zelt, in dem die Gottesdienste stattfanden. Einer der Pastoren hieß Joseph „Johnny“ Charpentier. Ich erinnere mich aber auch an „Tarzan“, dessen richtigen Namen ich nicht mehr weiß. Er war für die Logistik, Hygiene und Sicherheit zuständig. Tarzan hatte auf dem gesamten Gelände Müllsäcke anbringen und hunderte moderne Klohäuschen aufstellen lassen. Das Camp war an die regionale Wasserversorgung und an das Stromnetz angeschlossen.
„Einer der vielen Irrtümer ist die Annahme, dass wir noch immer Nomaden seien, weshalb wir noch als das ‚fahrende Volk‘ bezeichnet werden“, sagte mir Tarzan. „Die meisten von uns sind längst sesshaft. Nur für ganz besondere Gelegenheiten wie diese oder manchmal bei Hochzeiten üben wir uns in Traditionspflege.“ Viele verdienen ihr Geld seit jeher mit Handel, Handwerk und Dienstleistungen. Manche sind selbstständige Unternehmer. Die Klischees und Vorurteile sind Teil des Jahrhunderte alten Antiziganismus, der seinen grausamsten Tiefpunkt in der Verfolgung durch die Nazis fand, die bis zu einer halben Million Sinti und Roma ermordeten.
Heute halten Einrichtungen wie das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma sowie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma das Gedenken an den Genozid aufrecht. In Frankreich vertritt die „Fédération nationale des associations solidaires d’action avec les Tsiganes et les Gens du voyage“ (FNASAT) die Belange der Roma, die nach wie vor der Stigmatisierung ausgesetzt sind. Der deutsche Autor Klaus-Michael Bogdal ging in seinem Buch „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“ (2011) der Diskriminierung der Sinti und Roma nach. Er fand bereits im Spätmittelalter, als diese aus Indien nach Europa migrierten, Spuren der Ausgrenzung.
Unrechtmäßige Abschiebungen
„Mich haben die Leute im Supermarkt als Diebin beschimpft“, erzählt Linda, eine Romnja, mit der ich in Frankreich sprach. Sie leide darunter, immer wieder abgestempelt zu werden. Laut FNASAT schickten die französischen Behörden Tausende Roma aus Südosteuropa, die in inoffiziellen Lagern der französischen Vorstädte lebten, in ihre Herkunftsländer Rumänien und Bulgarien zurück. So wurden 2009 unter Präsident Nicolas Sarkozy mehr als 10.000 abgeschoben. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte stellte fest, dass Frankreich damit gegen die Europäische Sozialcharta verstoßen hatte. Die damalige EU-Justizkommissarin Viviane Reding kündigte rechtliche Schritte gegen die französische Regierung an. Die Serie von antiziganistischen Vorfällen riss nicht ab. Im Jahr darauf erschoss die französische Polizei einen 22-jährigen Rom, der mit dem Auto durch eine Polizeikontrolle gefahren war. Als Antwort auf den Tod des jungen Mannes griffen etwa 50 Roma die Polizeistation mit Äxten und Eisenstangen an. Auch in den Jahren darauf ließ die Regierung Lager räumen und führte Tausende Roma nach Rumänien zurück, nach den Angaben des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma zufolge selbst in den Wintermonaten. 2019 wurden die Fake News verbreitet, dass ein mit Roma besetzter Lieferwagen versucht hätte, Kinder und junge Frauen zu entführen. Daraufhin gab es mehrere gewalttätige und rassistische Überfälle auf Roma-Lager in Frankreich.
In Luxemburg ist den „Fahrenden“, wie sie oft genannt werden, seit einer großherzoglichen Verfügung aus dem Jahr 1880 verboten zu campieren. In Deutschland leben die meisten Sinti, wie der in Westeuropa beheimatete Teil der Sinti und Roma genannt wird, mittlerweile in festen Häusern. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es in meiner Kindheit in den 70er Jahren vor den Dörfern und Städten Camps mit Wohnwagen gab. Die Bewohner der Camps wurden ausgegrenzt und von den Einheimischen aus dem Dorf verbal diskriminiert. Ein verbreitetes Vorurteil lautete, die Kinder aus den Lagern würden zum Stehlen geschickt.
Bis heute stoßen die Sinti und Roma auf Ablehnung. So ergab die Leipziger Autoritarismus-Studie 2022, dass fast jeder vierte Westdeutsche mit folgender Aussage übereinstimmt: „Ich hätte ein Problem damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten.“ In Ostdeutschland war es über die Hälfte der Befragten. Der Bericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus MIA stellt die vielfältigen Formen eines strukturellen Antiziganismus fest. Er zeige darüber hinaus „deutlich die Gefahren des zunehmenden Nationalismus und Rechtsextremismus auf, der wieder mit Aggressionen und Gewalt gegen Sinti und Roma, Juden und andere Minderheiten auftritt“, schreibt Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im Vorwort. Er erinnert daran, dass bei den rassistischen Terroranschlägen in München 2016 und in Hanau auch Sinti und Roma von Rechtsextremen ermordet wurden. Die Dokumente wurden mir vom Verband deutscher Sinti und Roma, Landesverband Rheinland-Pfalz, deren langjähriger Vorsitzender der in Luxemburg geborene Jacques Delfeld senior war, zur Verfügung gestellt.
Steigende Fallzahlen
Aus dem Jahresbericht 2023 von MIA geht hervor, dass mit bundesweit 1.233 gemeldeten antiziganistischen Vorfällen ein deutlicher Anstieg gegenüber den Zahlen von 2022 festzustellen ist. Der Antiziganismus in der Polizei ist ein weiterer, trauriger Alltag. „Die Zahlen von MIA sind auf vielen Ebenen erschreckend“, sagt der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, seit 2022 Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung. „Ein Aspekt, der mich besonders beschäftigt, ist die Rolle der Polizei. An 83 der bundesweit erfassten antiziganistischen Vorfällen waren Polizeibeamte auf unterschiedliche Art und Weise beteiligt, drei dieser Vorfälle ordnet MIA dem Bereich der extremen Gewalt zu.“ Sinti und Roma sind im Alltag – auch in Luxemburg – einem starken Kontrolldruck ausgesetzt, wie aus Aussagen der Betroffenen hervorgeht.
Viele der Roma, die auch nach Luxemburg kommen, stammen aus Rumänien und Bulgarien, die 2007 der Europäischen Union beitraten. In keinem anderen Land leben mehr Roma, etwa zwei Millionen, als in Rumänien. Auf bis zu zwölf Millionen schätzt die EU-Kommission ihre Gesamtzahl. Die meisten leben in ihren Herkunftsländern sozial und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Oft werden sie auch dort wie Aussätzige behandelt, schuften unter prekären oder gar der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen, besuchen keine Schule.
Vier Fünftel der Roma leben unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle ihres Landes, jeder dritte Roma hat keinen Zugang zu fließendem Wasser. Unter den jugendlichen Roma gibt es viele Schulabbrecher, die wiederum kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Manche leben vom Müllsammeln. Wie etwa die Einwohner von Pata-Rât, einem Slum am Rande der Mülldeponie von Cluj-Napoca im Nordwesten Rumäniens. „Es sind Ressentiments, wie man sie auf der ganzen Welt gegenüber Armen pflegt – dass sie etwa gar nicht arbeiten wollen“, schreibt Norbert Mappes-Niediek. „Die Armut ist der Dreh- und Angelpunkt des Problems.“ In seinem Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“ (2012) stellt der Journalist und Südosteuropa-Experte fest: „Fast alle Roma sind arbeitslos und gehen ins Ausland.“ So auch Florin, Timur und Milena. Ihre Existenz am Rande der Gesellschaft setzt sich in Luxemburg fort.
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