Forum / Antisemitismus – kein Thema?
Über Antisemitismus reden, während „Israel“ mordet und zündelt? In seinem Forum-Beitrag geht André Hoffmann auf den wachsenden Hass gegenüber Juden ein und warnt davor, diese pauschal als Komplizen zu betrachten.
Das Töten und Zerstören im Gazastreifen, im Westjordanland und nun im Libanon, die Missachtung von Völker- und Menschenrecht, die illegale Besetzung und Kolonisierung sind zu verurteilen. Aber DIE Juden haftbar zu machen für die Taten der israelischen Regierung, ist Antisemitismus. Und natürlich die „Mort aux juifs“-Rufe bei Pro-Palästina-Demonstrationen und die Attacken auf jüdische Leben und Institutionen. Und was ist das Ausblenden der Hamas-Verbrechen am 7. Oktober und des zugehörigen Jubelgeschreis, was ist die Rechtfertigung des Heiligen Krieges gegen DIE Juden und ihren Staat als eine Art Widerstand?
Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist also so notwendig wie seit langem nicht mehr. Stattdessen hört man immer wieder Ausreden.
Die Shoah? Lange her. Kein „Vogelschiss“, nein, das nicht. Aber doch Vergangenheit. Eine Sache für Historiker. Widerspruch: Ja, die Shoah ist Vergangenheit, aber eine Vergangenheit, die nicht vergeht, nicht vergehen darf. Sie wirft zu viele grundsätzliche Fragen auf, zu den gesellschaftlichen Mechanismen, aber auch zur moralischen Verantwortung, zu Widerstandsfähigkeit, Mut und Feigheit, Hinschauen oder Wegsehen.
Wie lange hat in der „Erinnerungskultur“ die Judenverfolgung eine eher nebensächliche Rolle gespielt? Nachträgliches Wegsehen! Auschwitz als blinder Fleck – heute wieder?
Lange haben auch die Überlebenden geschwiegen. Weil sie sich schuldig fühlten, überlebt zu haben? Oder weil das Reden wäre wie der Essig in der Wunde? Weil sie befürchteten, nicht geglaubt zu werden? Und nun sollen sie wieder schweigen – oder ihre Nachfahren? Weil ja alles vergangen ist, und aus den Opfern Täter geworden seien.
Was heißt „für Israel“?
Demonstrieren gegen den Antisemitismus, wenn die meisten Juden doch für Israel sind? Da ist sie, die gefährliche Ambiguität. Was heißt „für Israel“? Ist es die Unterstützung der offiziellen israelischen Politik, der rechtswidrigen Besatzungspolitik, der Massenverbrechen von Netanjahu und seiner nationalistisch-religiösen Clique? Oder bedeutet es nur schlicht und einfach das Recht auf einen eigenen Staat? Vielleicht sogar auf einen friedfertigen, demokratischen Staat, der Menschen- und Völkerrecht achtet, ohne theokratische Dominanz – und auf einen ebensolchen für Palästina, wenn es noch möglich wäre.
Ja, der Antisemitismus-Vorwurf wird instrumentalisiert, um die israelische Politik gegen jede Kritik zu immunisieren. Also den (offenbar wachsenden) Antisemitismus ignorieren? Oder lieber sich mit ihm auseinandersetzen und gleichzeitig schonungslos die aggressive Politik der israelischen Rechten anklagen?
Ein verirrter postkolonialer Antisemitismus reduziert Israel auf einen reinen Kolonialstaat und hält alle Juden für Komplizen. Ich darf erinnern an Frantz Fanon, den schwarzen Psychiater von der Martinique, der eindringlich beschrieben hat, wie der Kolonialismus die Kolonisierten zur Gewalt treibt (unter anderem „Les damnés de la terre“, 1961). Der aber auch geschrieben hat: „Quand vous entendez dire du mal des juifs, dressez l’oreille, on parle de vous.“ Und: „Je ne puis me désolidariser du sort réservé à mon frère.“
Nelson Mandela hat eindrücklich gesagt: „Unsere Freiheit ist unvollständig ohne die Freiheit Palästinas.“ Er hat sich aber in seinem eigenen Land nicht für Terror, sondern für den gewaltfreien Widerstand gegen das brutale Rassisten-Regime entschieden.
Der Antisemitismus ist nicht entstanden mit der Gründung des Staates Israel, sozusagen als antikolonialer Widerstand. Es ist umgekehrt: Den „Staat der Juden“ gibt es wegen des jahrhundertelangen Antisemitismus, mit rechtlichen Einschränkungen, Pogromen bis zum mörderischen Tiefpunkt der Shoah. Dass dessen Gründung von westlichen Mächten favorisiert wurde, hat sicher auch mit geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu tun. Aber ihn als per se „kolonialen“ Staat zu bezeichnen, ignoriert dessen Funktion als Refugium. Damit wird die Verfolgung der Juden ignoriert. Und verstanden habe ich auch noch immer nicht, warum die nationale Selbstbestimmung (das heißt nicht: Nationalismus!) überall in der Welt gelten soll, außer für die Juden.
Entmenschlichung
Der fundamentalistisch-religiöse Terror einer Hamas und die Vernichtung allen Lebens im Gazastreifen durch die israelische Armee folgen einem ähnlichen Muster. Der Feind muss sterben!
Der französische Philosoph Marc Crépon beschreibt ein „mörderisches Einverständnis“, das immer schlechte Gründe findet, die Vernichtung von Menschenleben zu rechtfertigen („Le consentement meurtrier“, 2012). Judith Butler verlangt, jedes Menschenleben gleich zu achten und zu betrauern („Die Macht der Gewaltlosigkeit“, 2023). Leider scheint sie von dieser universalen Forderung abgewichen zu sein, wenn sie die Massaker der Hamas relativiert.
Das Schema des mörderischen Hasses ist immer dasselbe. Der andere darf kein Mensch sein wie ich. Zu jedem Massenverbrechen gehört die Entmenschlichung. Die Juden waren für die Nazis keine Menschen, sondern „Schädlinge“. Die feiernden Jugendlichen des 7. Oktober waren für die Hamas-Verbrecher offenbar keine Menschen: nur Juden, sonst nichts. Und die Palästinenser sind für einen israelischen Minister Tiere.
Die Fähigkeit, sich in die Haut und Lage des anderen zu versetzen, ihn als gleichwertigen Menschen zu achten, ist so notwendig wie rar. In die Haut des palästinensischen Jugendlichen, dessen Eltern oder Großeltern vor langer Zeit aus ihrem Haus vertrieben oder umgebracht wurden und der wieder Vertreibung und Tod erlebt. In die Haut der Israelin, deren Eltern oder Großeltern in Auschwitz (oder ihre Schwester am 7. Oktober) ermordet wurden und wieder als Jüdin bedroht wird.
Blauäugig frage ich, ob eine solche Anerkennung von Leiden, Ängsten und Wünschen des je anderen nicht ein notwendiger Schritt zum Frieden wäre. Aber Empathie gehört scheinbar nicht zum politischen Vokabular.
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