Theater / David Lynch auf Wish bestellt: Claire Thills Apoplexie scheitert am Handwerk
Mysteriöse Tonbandaufnahmen, eine stürmische Nacht und eine verlassene Motel-Lobby – Claire Thills „Apoplexie“ greift gekonnt Elemente des Mystery-Genres auf. Doch wo die Atmosphäre überzeugt, fehlt es dem Text an Klarheit und Tiefe. Was als spannende Reise beginnt, endet in einem labyrinthischen Rätsel, das leider zu viel unaufgelöst lässt.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich das Wort „Hörspiel“ höre, dann klingt das wie ein Blubbern im Kessel der Erinnerungen: Drei-Fragezeichen-Kassetten im Rekorder unter der Bettdecke, so leise gedreht, dass Mama es nicht hört. Deutschunterricht in der neunten Klasse, irgendwas mit Dürrenmatt. Und dann vielleicht noch Deutschlandfunk Kultur. Ein wohliges Wälzen im akustischen Nostalgiestaub des 20. Jahrhunderts. Da sich die Kulturindustrie seit 2000 ganz im Sinne des Zeitgeists auf das Re- und Upcycling des Vergangenen besinnt, weil Avantgarde sich nicht verkauft und eine Vorstellung von Zukunft jenseits der Apokalypse nicht mehr existiert, erleben Hörspiele gerade ein Revival – gerade die drei Fragezeichen füllen als Live-Hörspiele in Deutschland mittlerweile Konzerthallen, von denen die meisten Top-40-Bands nur träumen können.
Hörspiele funktionieren besonders gut bei Genre-Geschichten: Krimis, Thriller, Horror, Mystery – Geschichten, bei denen vornehmlich das äußere Geschehen die Handlung vorantreibt und Spannung erzeugt. Deswegen verwundert es auch nicht, dass sich Claire Thills „Apoplexie“, das vergangenen Donnerstag im Kasemattentheater Premiere feierte, ganz klar am Mystery-Genre bedient: Die Protagonistin Anna B. findet beim Ausräumen der Wohnung ihres kürzlich verstorbenen Vaters eine Sporttasche mit rätselhaften Tonbandaufnahmen, reist mit ihnen durch eine regenreiche dunkle Nacht, hat im Gewitter einen Unfall und findet sich am Ende in einem merkwürdig leeren Motel wieder. Alles klassische Szenarien mit Potenzial für eine spannende Geschichte mit angenehmem Gruselfaktor. Potenzial, das leider nicht ausgeschöpft wurde.
Vom „Warum?“ zum „Hä?“
Aber zunächst einmal die guten Dinge: Sounddesign, Musik und die Erzählerinnenstimme greifen gelungen ineinander und schaffen es, die mysteriöse Atmosphäre ohne Rückgriff auf digitale Spielereien im Raum des Theaters zu beschwören. Das Kopfkino funktioniert, man ist mit Anna B. in der Wohnung, auf der regnerischen Autobahn und auch im Motel. Geräusche erschaffen lebendige Bilder vor dem inneren Auge, der einzige visuelle Reiz, ein projiziertes Rechteck mit wechselnden Farben und angedeuteten Mustern, ist eine hypnotische Begleitung und gibt den Augen gerade genug Beschäftigung, damit sie – und mit ihnen die Aufmerksamkeit – nicht abschweifen. Das würde auch klappen, wäre da nicht der Text.
Apoplexie ist der Versuch, mit den Konventionen des Genres zu spielen und den Fokus auf die Protagonistin Anna B. zu legen, also eine innere Motivation zum Handlungstreiber des Stücks zu machen: B. entscheidet, mit ihrem bisherigen Leben zu brechen, alles hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Warum? Weiß man nicht, und der Text verrät es auch zu keinem Zeitpunkt, nicht einmal in Andeutungen. Während der Wunsch nach einer Flucht aus den Zwängen der Existenz für viele Menschen sicher nachvollziehbar ist, wirkt die Handlung in diesem Fall durch das Ausbleiben jedweder Erklärung eigenartig unmotiviert. Und steht zu Anfang noch das „Warum?“ im Raum, verwandelt es sich im Zuge des Stücks zusehends in ein großes „Hä?“.
Jetzt mag man einwenden, dass ein „Hä?“ durchaus seine Berechtigung haben kann – bei David Lynch etwa, auf den sich das Programmheft explizit bezieht, oder auch bei Franz Kafka. Der Unterschied zwischen „Mulholland Drive“ oder „Das Schloss“ einerseits und „Apoplexie“ andererseits ist zunächst, dass die beiden Ersteren die Existenz eines Sinnes suggerieren, der sich den Figuren und auch dem Zuschauer bzw. dem Leser entzieht. Durch dieses gemeinsame Im-Dunkeln-tappen entsteht Identifikation, die sich nicht auf banale Emotionalisierung verlassen muss, um zu wirken. Da die Protagonistin in Apoplexie aber gar nicht nach einem Sinn oder einer Erklärung zu suchen scheint, geschweige denn sich anschickt, ihre Handlungen selbst sinnhaft zu begründen, geht diese Identifikation flöten – der Zuschauer tappt alleine im Dunkeln und fragt sich, was er hier eigentlich tut.
Ärgerliche Fehler
Was man als eigenwilliges, künstlerisches Experiment abtun könnte, wird allerdings endgültig ärgerlich, wenn wir zum zweiten Unterschied zwischen Thill und Lynch kommen: der handwerklichen Finesse. In Apoplexie ist es die Textebene, die leider vorne und hinten nicht stimmt. Von reichlich banalen Grammatikfehlern (Akkusativ statt Dativ) über logische Brüche (sie fährt durch den Regen, sitzt auf der Raststätte aber trocken am Vorderreifen ihres Autos und hört eine Kassette, fährt anschließend weiter durch den Regen) hin zu reichlich schiefen Sprachbildern und Metaphern, die tatsächlich eher an Mystery-Massenware vom Bahnhofskiosk erinnern, zieht eine Parade nerviger Kleinigkeiten durch das Stück, die jede für sich genommen verzeihlich wäre. In ihrer Gesamtheit machen sie aber leider aus einer schönen Idee ein eher mittelmäßiges Produkt. Man könnte auch sagen: David Lynch bei Wish (Onlineplattform für Schnäppchen, Anm. d. Red.) bestellt.
Ein Lektorat und auch eine motivierte Dramaturgie hätten auf der Textebene ohne großes Aufhebens noch ein kleines Wunder vollbringen können. Die vorhandenen Ansätze sind gut, das Sounddesign funktioniert, die Stimme trägt und die Fokusverschiebung von der äußeren auf die innere Handlung ist mutig, deshalb ist es umso bedauerlicher, dass die Umsetzung scheitert. Unter den gegebenen Umständen kann man leider von einem Besuch des Stücks nur abraten. Wenn Sie ein Hörspiel wollen, packen Sie lieber die alten Drei-Fragezeichen-Kassetten aus. Das ist zwar weder live noch neu, aber zumindest kann man sich auf die Qualität verlassen.
Vorführungstermine
Weitere Termine am 15., 17. und 18. Oktober um 20 Uhr im Kasemattentheater (14, rue du Puits,
L-2355 Luxemburg-Stadt)
- Luxemburg zeigt seine literarische Vielfalt - 19. Oktober 2024.
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