Konzert / Ich bin der „Ich bin nicht da“: Bob Dylan kommt nach Luxemburg – eine Huldigung
Einer der letzten auf Erden wandelnden Pop-Götter findet am Montag seinen Weg nach Luxemburg. Erwarten darf man alles und nichts. Über einen Mann, der immer schon nicht dort war, wo andere ihn sehen wollten.
Der Schlüssel zu Bob Dylans Werk liegt in einem Keller. Genauer: Im Keller von „Big Pink“, dem Haus in West Saugerties, New York, in das Dylan 1967 ein Jahr nach seinem schweren Motorradunfall von der Weltbühne verschwunden ist. „Big Pink“, in dessen Keller er mit seiner Band The Band jammt. „The Basement Tapes“ heißt das Ergebnis, es wird erst acht Jahre später, 1975, veröffentlicht. Die Musik, die Dylan zusammen mit Robbie Robertson, Levon Helm, Rick Danko, Richard Manuel und Garth Hudson in „Big Pink“ spielt, ist der zweite große Hakenschlag in einem Jahrzehnt.
Was aus diesem Keller nach oben dringt, ist weder Bürgerrechtslyrik noch Beat-Dada, weder Protestsongs, noch Rock’n’Roll. Es ist etwas radikal Neues – und gleichzeitig ein Hauch aus dunkler Vergangenheit. Geister aus US-amerikanischer Prähistorie spuken durch diese Songs, ein kollektiver Traum aus Folk, Hillbilly, Blues und Gospel, aus Arbeitersongs, Kinderreimen und Saufliedern. Der berühmte US-amerikanische Musikjournalist Grail Marcus nennt es eine „kulturelle Landkarte eines versunkenen, eines archaischen und anarchischen Amerika der Tramps, Outlaws und schrägen Vögel“. Dylan springt kopfüber in den Mythenschatz seines Landes. Später wird man Musik wie diese Americana nennen.
„Wenn irgendwo, dann wird hier etwas vom ‚True Dylan’ sichtbar“, schreibt Heinrich Detering in seiner Dylan-Biografie. „Der Avantgardist taucht in die Quellen der amerikanischen Roots-Musik ein und kehrt verwandelt aus diesem Bad zurück“. Es ist wahrlich eine Verwandlung. Dylan durchlebt in dieser Zeit eine so radikale Veränderung, dass sie einer Wiedergeburt gleicht. Nicht nur seine Musik ändert sich, auch seine Kleidung. Der schwarze scharfkantige Anzug wird ausgetauscht gegen ein Holzfällerhemd. Selbst Dylans Stimme ist anders: höher, nasaler, sanfter.
Ich ist ein Anderer
Der Schlüssel zu Dylans Werk also, er liegt im Keller von „Big Pink“ und er heißt „I’m Not There“. Ein Bootleg, aufgenommen mit einem rauschenden Tonbandgerät im Keller von „Big Pink“. Ein Song, der es 1975 nicht auf „The Basement Tapes“ schafft und der erst 2007 offiziell veröffentlich wird. Kaum Song, mehr Gespenst. Und doch die Essenz Dylans. Stimme, Akustikgitarre, ganz hinten im Mix glättet eine elektrische Orgel die rauen Kanten dieses Rohdiamanten. Ein geisterhafter Folk-Song, das Fragment einer Beziehungsgeschichte. Dylan windet sich durch eine Erzählung von erlösender Liebe, Abhängigkeit und Verlust. Am Ende jeder Strophe ringt er sich mal triumphal, mal resigniert zum Refrain durch: „But I’m not there, I’m gone“. Aber ich bin nicht mehr da, ich bin schon lange weg.
Bob Dylan ist der Mann, der niemals da war. Verfolgt von seinen Jüngern, die ihn ihm vor allem in den Sechzigern eine beinahe messianische Figur sahen, ist er zeitlebens ein abwesender Gott geblieben, der „Ich bin der Ich-bin-nicht-da“. Dylan hat das Motto eines seiner größten literarischen Vorbilder ausgelebt: Arthur Rimbauds „Je est un autre“, die berühmte Formel der Entgrenzung des französischen Poeten, Landstreichers, Zirkusarbeiters und Waffenhändlers. Dylan ist nie Dylan gewesen, sondern immer schon ein anderer. Er war immer einen Schritt weiter, als seine Anhänger es von ihm erwarteten. Löste die Kunstfigur Bob Dylan auf, um sie an einem anderen Ort, in einer anderen Gestalt wieder erscheinen zu lassen.
Immer, wenn Dylan fassbar wurde, wenn die Fans und Nicht-Fans ihn festgenagelt hatten, bewegte er sich weiter. Verschwand, um in einer neuen Inkarnation zurückzukehren. Zu Beginn seiner Karriere spielte Dylan politische Folksongs. Er sang von Pazifismus und rassistischen Morden, vom kleinen Mann im Getriebe der Weltmächte. 1963 reiste er in die Südstaaten, um die Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen. Aus dem jungen Robert Zimmermann aus Hibbing, Minnesota, war auf den Straßen von Manhattans Greenwich Village die Stimme einer Generation geworden. Doch Dylan wollte mehr sein als der Kämpfer mit der Akustikgitarre. Er wurde vom Texter zum Lyriker, verschleierte die einst klaren Aussagen seiner Songs, aus „How many times must the cannonballs fly?“ wurde „The sun is not yellow, it’s chicken“. Dylan wurde elektrisch. Auf dem Newport Folk Festival spaltete er 1965 mit seiner E-Gitarre das Publikum. Ein Jahr später kam es zum wohl berühmtesten Zwischenruf der Musikgeschichte: Bei einem Auftritt in Manchester wurde Dylan aus dem Publikum als „Judas!“ beschimpft, als Verräter. Der Angeklagte drehte sich zu seiner Band und gab die Anweisung: „Play fucking loud“. Das war der erste Hakenschlag.
Nachdem Dylan mit seinem neuen kalt-schimmernden Quecksilber-Sound quasi eigenhändig die moderne Rockmusik erfunden hatte, zog er sich aufs Land zurück, in die Nähe von Woodstock. Während die Hippies den Summer of Love feierten, veröffentliche Dylan 1967 mit „John Wesley Harding“ ein archaisches Folkalbum voller Bibelverweise, das Alterswerk eines jungen Mannes. Und als die Hippies dann zwei Jahre später in Woodstock einfielen, um das große Fest der Gegenkultur zu feiern, war Dylan schon längt wieder weg. Er hatte gerade eine Country-Platte mit Johnny Cash aufgenommen – in Nashville, dem kommerziellen Herzen des musikalischen Amerikas.
Der Tod des Autors
Dylans Verweigerungshaltung findet ihren Höhepunkt ein Jahr später auf dem Doppelalbum „Self Portrait“. Der Mann, der nur wenige Jahre zuvor „Like a Rolling Stone“ krächzte, croont nun gefällige Mainstream-Standards und Country-Balladen. Aber es geht noch besser. Ein Album namens Selbstporträt, mit einem Selbstporträt auf dem Cover – und was fehlt gleich auf dem allerersten Song der Platte? Richtig, es ist Bob Dylan selbst, der zum ersten und einzigen Mal in seiner Karriere auf einem eigenen Song nicht zu hören ist. Stattdessen gibt es einen Mädchenchor, der zu klebrigen Streicherarrangements immer wieder „All the tired horses in the sun, how am I supposed to get any riding done“ wiederholt. Greil Marcus begann zeitgenössisch einen legendären Verriss vielleicht nicht ganz zu unrecht mit den Worten: „What is this shit?“. Heute kann man im Rückblick milder urteilen. Vollzieht Dylan hier doch erstmals etwas, was er für den Rest seiner Karriere perfektionieren wird: den Tod des Autors.
Dylan löst sich auf, er wird zum Sinnbild der flüchtigen Moderne. Als er Jahrzehnte später den ersten Teil seiner Autobiografie „Chronicles“ schreibt, bedient er sich wortwörtlich bei Marcel Proust, Ernest Hemingway, Jack London und H.G. Wells. Er erzählt seine eigene Lebensgeschichte mit den Worte anderer Schriftsteller – ohne diese als Zitate zu kennzeichnen. Der späte Dylan hat seine Lieder einmal als „Mysterienspiele“ bezeichnet. So muss man sie verstehen. Es sind Maskenbälle, hier trifft Hochkultur auf Pop, feines Zitat auf plumpes Plagiat. Da tauchen Ovid und Vergil auf, die Ilias und die Bibel, Rimbaud und Shakespeare. Weltliteratur, gefiltert durch das Sieb eines Künstlers, der die Populärkultur des 20. Jahrhunderts in sich aufgesogen hat – und sie damit geprägt hat wie kaum ein anderer.
Bob Dylan hat in seinem Leben noch viele Haken geschlagen, die Spur gewechselt, seine Verfolger abgeschüttet. Auf dem ungewöhnlich intimen und persönlichen Trennungsalbum „Blood on the Tracks“ ließ er das Herzblut seiner gescheiterten Ehe in die Rillen der Platte laufen, nur um wenig später – versteckt hinter der weißen Maske des Zirkusdirektors – mit der Rolling Thunder Revue auf Tour zu gehen. Ende der Siebziger Jahre begann dann Dylans christliche Phase, der Verräter von einst war plötzlich erlöst. Wie alles in seinem Leben verkörperte Dylan auch den „Born again Christian“ mit Leib, Seele und heiligem Ernst.
Auch wenn es Ende der Achtziger musikalisch kurzzeitig holprig wird, hat es Bob Dylan – spätestens mit „Time Out of Mind“, dem Beginn des Spätwerks 1997 – als einziger der großen Pop-Götter des 20. Jahrhunderts geschafft, wahrlich unantastbar zu werden. Es gibt keine Skandale, kein Klatsch und kein Tratsch. Dylan hat sich in den vergangenen Jahren aus der Sphäre des Menschlichen zurückgezogen. Er gibt keine Interviews, erlaubt keine Fotos („Du sollst dir kein Bildnis von mir machen“, sprach Gott). Selbst seinen Literaturnobelpreis hat er heimlich, still und leise in Stockholm abgeholt. Nur die „Never Ending Tour“, sie rollt seit 1988 – und öffnet ein seltenes Fenster in den Kosmos Dylan. Das kann zuweilen verstören, wenn er seine alten Songs bis zur Unkenntlichkeit moduliert. Es ist aber auch vielleicht eine der letzten Chancen, einem der größten Künstler des 20. Jahrhunderts bei der Arbeit zuzuschauen. Das heißt, beim Nicht-da-Sein.
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