Nahost-Reise / Zwischen Schmerz und Perspektive: Bettel trifft Familienangehörige von Hamas-Geiseln
Außenminister Xavier Bettel hat während seiner Nahostreise eine Familienangehörige einer Hamas-Geisel getroffen. Auszüge eines Gespräches über Schmerz, Schuld – und Friedensperspektiven in einem nicht enden wollenden Konflikt.
Rita Lifshitz hatte Glück. Die gebürtige Schwedin ist im Falle eines Angriffes dafür zuständig, die Senioren ihres Kibbuz in Sicherheit zu bringen. Am Tag der Hamas-Attacke am 7. Oktober 2023 war Rita jedoch mit ihrer Enkelin in Tel Aviv. Ihr Schwiegervater Oded Lifshitz hatte weniger Glück. Der 84-Jährige wurde von der Hamas verschleppt. Seitdem wartet die Familie auf ein Lebenszeichen – doch die Hoffnung schwindet. Bei einem Treffen mit Außenminister Xavier Bettel erzählt sie von ihren Erlebnissen und ihren Hoffnungen seit dem 7. Oktober. Das Gespräch fand am Mittwochmorgen in Jerusalem statt. Anschließend traf sich Bettel mit israelischen und palästinensischen Würdenträgern.
Außenminister Xavier Bettel: Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit genommen haben. Wir alle kennen die Bilder des Hamas-Angriffes. Ich bin der Meinung, dass dieses Land (Israel, Anm. Red.) Sicherheit verdient hat. Das bedingt aber auch, dass die benachbarten Länder in Frieden leben können. Es ist nicht alles schwarz und weiß. Es ist wichtig, die Ängste der Israelis zu verstehen, weswegen ich – entschuldigen Sie, wenn ich direkt bin – gerne erfahren würde, welchen Horror Sie durchleben. Sie sind eine Überlebende, weswegen es wichtig ist, Ihnen zuzuhören.
Rita Lifshitz: Ich danke Ihnen, dass Sie erneut hierhergekommen sind, nachdem Sie schon so oft hier waren. Wenn Sie noch mal herkommen, würde ich Sie gerne in meinen Kibbuz einladen. Es ist ein wunderschöner Kibbuz, die Perle Israels. Ich bin 1982, als Schweden und Europa pro Israel waren, als Freiwillige nach Israel gekommen und habe mich in Israel verliebt. Juden, Araber, Muslime, Christen haben hier zusammen gewohnt. Es war wie ein Paradies bis zum Morgen des 7. Oktober, als es zur Hölle wurde.
85 Menschen wurden am 7. Oktober aus den beiden Kibbuzim Nir Oz und Nirim entführt – darunter Ritas Schwiegereltern Oded und Yocheved Lifshitz. Mitglieder des Kibbuz versteckten sich während des Angriffes in ihren Raktenunterschlupfen, während die Hamas Bewohner tötete, Wasser- und Energiezufuhr sabotierte und ganze Häuser abfackelte. Die 85-jährige Yocheved wurde am 23. Oktober von der Hamas wieder freigelassen, während ihr Ehemann in Gefangenschaft blieb. Die beiden Eheleute sind in Israel bekannte Friedensaktivisten, die sich für die Koexistenz zwischen, Israel, Arabern und Palästinensern einsetzten. Ritas Angaben zufolge wurden 80 Prozent des Kibbuz zerstört.
Rita Lifshitz: Während des Angriffes posteten die Terroristen ein Video vom Mord an Bracha Levinson auf Facebook. So erfuhr ihre Familie von ihrem Tod. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen Großeltern, sie wussten, dass ich nicht im Kibbuz war an dem Morgen. Gegen 9 Uhr versuchte ich sie anzurufen, doch da hatte die Hamas sie bereits nach Gaza verschleppt. Seitdem kämpfe ich für Odeds Rückkehr und die der 29 anderen Geiseln aus unserem Kibbbuz.
Europa, die Welt, Israel, Katar, Deutschland – während Geld nach Gaza floss, haben wir alle geschlafen und sie haben diesen Terror aufgebaut. Die Palästinenser müssen von diesem Hamas-Terror befreit werden. Wir brauchen unsere Geiseln zurück. Und Palästina muss von Israel befreit werden, um Frieden zu schaffen. Oded war einer der Ersten, die mit Jassir Arafat (ehemaliger Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Anm. Red.) über mögliche Bildungschancen für Palästina redeten. Um Frieden zu schaffen, braucht es gute Bildung. Wir brauchen Frieden mit Palästina, nicht mit der Hamas. Wir brauchen Frieden mit Syrien und Libanon. Und dafür brauchen wir Hilfe – denn Benjamin Netanjahu und wir schaffen das nicht alleine.
Xavier Bettel: Es ist wichtig für mich, jemanden aus Israel zu treffen, der sagt, dass Palästina existiert, und eine Waffenruhe einfordert. Das ist noch lange nicht die Ansicht aller Israelis, das muss ich ehrlich so sagen. Die Hamas lebt von der Angst – in dem Moment, wo Frieden herrscht, verlieren sie ihren „fonds de commerce“. Israel will Frieden und tut alles dafür, eine Wiederholung des Traumas vom 7. Oktober zu vermeiden. Das verstehe ich. Wie aber erkläre ich, dass heute Morgen wieder hundert Personen in Gaza getötet wurden? Wie erkläre ich jemandem, dass seine Eltern, Geschwister oder Kinder tot sind, weil ein Terrorist sich in der Nähe aufgehalten hat? Wir brauchen eine Waffenruhe. Und dafür brauchen wir Garantien seitens Israel und Palästina – und im Moment haben wir nichts.
Rita Lifshitz, mit lauter Stimme: Wir im Kibbuz glauben an den Frieden. Wenn es keinen Frieden gibt, wird es immer wieder solche Vorfälle geben. Die 40.000 Toten in Gaza … Wer ist verantwortlich dafür? Die Hamas ist verantwortlich dafür. Sie sind in unser Kibbuz eingedrungen. Ganz egal, ob wir pro Palästina waren oder nicht. Die 40.000 Toten hätte es nicht gegeben, wenn die Hamas die Geiseln freigelassen hätte. Israel, Katar, die ganze Welt hat dabei geholfen, diesen Terror aufzubauen. Jetzt werden wir Gaza gemeinsam wieder aufbauen müssen. Es ist viel Geld in Gaza geflossen. Wir haben jedoch verschlafen, wo dieses Geld hinfloss. Wir müssen jetzt endlich aufwachen.
Xavier Bettel: Nach der Hamas wird es wieder eine Hamas geben, wenn wir die Menschen nicht bilden. Wie erklärt man einem palästinensischen Kind, dass seine Eltern bei einem Raketenangriff umgekommen sind? Wie erklärt man ihm, dass Israel ein freundlich gesinntes Land ist, das nur das Beste für ihn will? Es gibt eine psychologische Komponente, will ich damit sagen.
Rita Lifshitz: Ja, es gibt viel Hass. Es gibt aber auch viel Hass in Israel. Wir aus dem Kibbuz aber haben keinen Hass. Wenn aus einer Gemeinschaft 25 Prozent getötet oder gekidnappt werden, könnte man meinen, wir hätten viel Hass. Haben wir nicht. Wir wollen nur unser Kibbuz wieder aufbauen. Ich habe einen palästinensischen Klienten. Seit dem 7. Oktober stehe ich mit ihm in Kontakt. Wir helfen einander.
Die Journalisten werden gebeten, den Saal zu verlassen. Außenminister Bettel wird noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Rita sprechen. Es wird die Frage gestellt, was Luxemburg oder die internationale Gemeinschaft tun kann, um bei der Freilassung der Geiseln zu helfen.
Rita Lifshitz: Es braucht Druck. Druck auf unsere Regierung, aber auch Druck auf Ägypten, Katar – die, die mit der Hamas in Kontakt stehen. Ich würde aber noch gerne etwas sagen. Als ich vom Tod von Yahyah Sinwar erfahre habe … Es ist mein Gefühl, dass spätestens mit dem Tod von Sinwar keine der Geiseln mehr leben. Aber es braucht Hoffnung, sonst würde die Welt nicht mehr funktionieren.
Xavier Bettel: Ich denke, dass auch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah mehr tun könnte, um die Geiseln freizubekommen.
Rita Lifshitz: Mein Freund Thomas Olson wurde 2013 in Syrien von der Nusra Front gekidnappt. Er wurde auch dank der Hilfe Ramallahs freigelassen.
Xavier Bettel: Es bleibt auch die Frage, was Israel noch braucht für eine Waffenruhe. Am Anfang hieß es, es sei die Freilassung der Geiseln, jetzt ist es die Beseitigung der Hamas und der Hisbollah. Was ist dann der nächste Schritt?
Rita Lifshitz: Unsere Herzen zerbrechen daran. Und deswegen brauchen wir eure Hilfe. Ich habe der palästinensischen Botschafterin in Schweden geschrieben. Sie hat gesagt, sie habe nichts mit der Hamas zu tun. Dabei bin ich der Meinung, dass Ramallah so viel helfen könnte.
Xavier Bettel: Ich werde es am Nachmittag ansprechen.
Rita Lifshitz: Danke. Wir brauchen eine Lösung und ich bin dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, hierherzukommen, um eine Lösung zu finden.
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