Kino / Romantik-Komödie „Anora“ von Sam Baker zu Recht in Cannes ausgezeichnet
„Anora“ von Sean Baker gewann im Sommer bei den Filmfestspielen in Cannes überraschend die Goldene Palme als bester Film des Wettbewerbs. Der spritzige und wendungsreiche Film, der die Elemente der romantischen Komödie mit denen des Sozialdramas auf spielerische Weise verbindet, läuft nun auch regulär in den Kinos.
Der US-amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Sean Baker wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme für „Anora“ geehrt. Es ist der erste Preis für einen amerikanischen Filmkünstler seit Terrence Malicks Auszeichnung für „Tree of Life“ (2011). Sean Baker avanciert damit zu einem immer angesagteren Post-#metoo-Autor der Peripherie Hollywoods, der seit dem Beginn seiner Regiekarriere vor allem eins gemacht hat: konsequent die Randexistenzen der USA in den Blick zu nehmen und so eine Haltung gegen die Stigmata der sozial Unterprivilegierten zu entwickeln.
Bakers Zugang ist dem Gestus des Zeigens verpflichtet, nicht so sehr dem des emotionalen Erlebens. Er unterdrückt jede Sentimentalität, überhaupt ist ihm ein Blickwinkel fremd, bis in die unmittelbare Inszenierungsweise ist dieses Moment eindrücklich in der Form ausgedrückt: Eine frontal ausgerichtete und überaus statische Kamera ist diesem beobachtenden und feinfühligen Registrieren verpflichtet. Die Abwesenheit von Filmmusik ist in dieser Hinsicht ebenso vielsagend. Mit Filmen wie „Starlet“ (2012), „Tangerine“ (2015), „The Florida Project“ (2017) oder noch „Red Rocket“ (2021) ist er entschieden als ein Filmemacher der Ränder der Gesellschaft auf den Plan getreten – in „Anora“ bringt er diese Überzeugung publikumswirksam mit den Genrecodes der romantischen Komödie zusammen.
Fokus Randexistenz
Diese Fokussierung der Randexistenzen prägt zunächst auch „Anora“, die Anfangssequenz belegt einmal mehr Bakers soziologisches Interesse, seine Kamera ist der beobachtenden Milieubeschreibung vorerst ganz verpflichtet: In einem Erotikclub nämlich zeigt Baker die Sexarbeit zuvorderst als Arbeit, nicht ohne Frivolität, aber mit größter Aufrichtigkeit. In diesem Club lernen wir die junge Erotiktänzerin Anora (Mikey Madison) kennen. Obwohl diese Einstiegssequenz über ihren zunächst semidokumentarischen Charakter an „Starlet“ (2012) erinnern lässt, wird „Anora“ in der Folge eine für Sean Baker doch befremdliche Richtung einschlagen: Als Anora nämlich auf den Sohn eines russischen Oligarchen, Ivan (Mark Eydelshteyn), trifft, der mit Geldscheinen nur so um sich schmeißt, entwickelt sich „Anora“ zu einer romantischen Komödie, die deutliche Anleihen bei „Pretty Woman“ (1999) enthält.
Anora, die von allen nur Ani genannt wird, soll für 15.000 Dollar dem verwöhnten Ivan, den alle nur Wanja nennen, für eine Woche Gesellschaft leisten. Gemeinsam mit seinen lebensfreudigen Begleitern unternehmen Wanja und Ani einen Ausflug nach Las Vegas, es wird ausgelassen gefeiert und gekifft, am Ende steht da ein Heiratsantrag: Um nicht zu seinen besitzergreifenden Eltern nach Russland zurückkehren zu müssen, will Wanja Ani heiraten. Diese ist vom Leben im Überfluss und Wanjas Handeln ohne Konsequenzen so begeistert, dass sie annimmt und die beiden sich kurzerhand das Ja-Wort geben. Mittlerweile aber haben Wanjas Eltern von der Hochzeit ihres Sohnes erfahren und schicken ihren in Brooklyn ansässigen Handlanger Toros (Karren Karagulian) los, um die Heirat rückgängig zu machen.
Toros, in Begleitung von Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yuriy Borisov), zwei Männern fürs Grobe, dringt in Ivans Luxusvilla ein und als Gewalt ausbricht, eskaliert die Situation endgültig. Ivan ergreift die Flucht und die russische Truppe heftet sich zusammen mit Ani an dessen Fersen. Diese Zweckgemeinschaft zur Auffindung des entschwundenen Märchenprinzen entwickelt sich zunehmend zu einer Entzauberung dieser vorgefertigten klischierten romantischen Bilder. Baker lässt seine suchenden Figuren eindringen in die sozial unterprivilegierten Orte aus ganz Brooklyn. Er zeigt skizzenhaft die Menschen, die im Leben ohne rechte Chance sind. Baker präsentiert diese Bilder ohne Vorurteil, es sind Menschen, in denen sich letztlich auch Ani wiedererkennt. Die Verfolgungsjagd hält wendungsreiche Momente der Action, der Schnelligkeit und der spritzigen Wortgefechte bereit, doch wechselt Baker sie ebenso spielerisch mit Momenten der stillen Einsicht, der Introspektion.
Brüche und Illusionen
Wenn diese Stilbrüche sich so unscheinbar und unmerklich vollziehen, dann ist dies das Ergebnis einer vortrefflichen Regie Sean Bakers: Ohne ausladende Dramatik und ohne Didaktik wechselt Sean Baker leise die Register, ohne die große Erzählung um Liebe, Illusionen und Abhängigkeiten zu verfälschen. „Anora“ ist zudem der erste Film Bakers, der die Reichen in den Blick nimmt. Er zeigt die Vermögenden besonders als Ausdruck einer hemmungslosen Verschwendungsgesellschaft, in der sogar die Liebe auf einen Preis gebracht werden kann. Wanjas russische Aufpasser sind mehr Spielbälle, über die der Junge beliebig verfügen kann, sie sind Figuren auf dem großen Schachbrett, das von seinen wohlhabenden Eltern geführt wird. Und wenn nun auch Ani für Wanja letztlich nur ein Wegwerfprodukt ist?
Diese Diskrepanz in der Zeichnung seiner Figuren schlägt sich ebenso im unmittelbaren Schauspiel seines Darstellerpaares nieder: Im Gesicht von Mikey Madison, die Ani mit einer Mischung aus Trotz und Naivität verkörpert, kann man sehr viel ablesen, da ist ein Glaube ausgedrückt an die große Liebe, ein Glaube, der über den Verstand triumphieren will. Im Gegensatz dazu zeigt das Gesicht von Wanja lediglich eine kindliche Unbekümmertheit. Mark Eydelshteyn legt seine Figur mit der verführerischen Anziehungskraft des reichen Sprösslings an: Alles an seinem Wesen, bis in den unmittelbaren Habitus hinein, zeugt von einer mit Geld abgesicherten Unbekümmertheit, während die ärmere Sexarbeiterin ihre körperliche Zärtlichkeit bietet. Es ist eine sehr fragile Konstellation. In gewohnt filmischer Manier des unheilvollen Vorausdeutens setzt Baker mehrere Schwarzblenden, sie sind die Vorboten für die Misere, die das fluchtartig gewonnene Glück zum Einsturz bringen wird.
In seinen treffsichersten Momenten scheint in „Anora“ deshalb etwas durch – eine Ahnung für den Selbstbetrug, dem sich die beiden Liebenden hingeben. Dass das romantische Abenteuer für Ani und Wanja nicht so romantisch enden wird, wie die Hollywood-Erzählung so gerne verspricht, deutet Baker schon ganz früh an. Den Illusionscharakter seiner Bilder bricht Baker immerzu leise, lässt Momente der harschen Realität einfließen, er zeigt, dass gewisse Klassenkonflikte und Hierarchien doch nie überwunden werden können. Er lässt Gesellschaftsschichten, Lebensauffassungen und Wertevorstellungen teilweise schonungslos aufeinanderprallen, doch – und das ist das Entscheidende an Bakers Blick – er belässt seinen Figuren dabei die Würde.
Gespür des Regisseurs
Baker beweist ein sensibles Gespür für die Darstellung dieser Figuren, die zunächst wie reine Zeichen in einem codierten System der Filmerzählung erscheinen: Da gibt es die stigmatisierte, aber stolze Sexarbeiterin, den verwöhnten, unbekümmerten Milliardärssohn, schließlich die stummen und einfältigen russischen Handlanger. Allmählich legt Baker deren Risse frei, zeigt ihre Sorgen, ihre Ängste. Seine Leistung liegt vor allem in dieser ihm sehr eigenen Engführung aus überhöhter Kunstdarstellung und unverfälschter realistischer Prägnanz.
Die Auszeichnung in Cannes mit der Goldenen Palme als bester Film des Wettbewerbs für „Anora“ ehrt auch Bakers Gesamtwerk, knüpft dieser Film doch direkt an dieses Repertoire an. Der Film um eine Sexarbeiterin, die sich in den Sohn eines reichen russischen Oligarchen verliebt, ist eine verdrehte romantische Komödie, die sich mehrheitstauglicher gestaltet als die vorherigen Filme des amerikanischen Regisseurs, und sich doch nahtlos in dieses bestehende sozialrealistische Kino einfügt – die Auszeichnung mit der Goldenen Palme dürfte Baker nun international endgültig etablieren.
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