Sinti und Roma / Minderheit zwischen Stolz und Verleugnung
Die Sinti und Roma haben nach wie vor sehr stark unter Ausgrenzung, Stereotypen und offener Diskriminierung zu leiden. Andererseits kämpfen ihre Repräsentanten wie etwa Christian Kling, Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Rheinland-Pfalz, dagegen an und stehen stellvertretend für ein neues Selbstbewusstsein der Minderheit, die in Luxemburg vor allem im Zuge der Diskussion um das Bettelverbot diskriminiert wurde.
Tageblatt: Herr Kling, die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus in Berlin hat einen Anstieg antiziganistischer Vorfälle in Deutschland registriert. Wie beurteilen Sie die Lage der Sinti und Roma?
Christian Kling: Wenn man die Jahre 2022 und 2023 miteinander vergleicht, ist in der Tat ein deutlicher Anstieg antiziganistischer Vorfälle festzustellen, die in Deutschland registriert wurden. Man kann von einer Zuspitzung oder Verschärfung der Situation sprechen. Das hat sicherlich auch mit dem aktuellen politischen gesamtgesellschaftlichen Geschehen zu tun. Es gibt aber mehrere Faktoren, die zusammenkommen. Man muss auch bedenken, dass man sich jahrzehntelang nicht um die Minderheit der Sinti und Roma gekümmert hat. Daher ist das Misstrauen innerhalb der Minderheit gerade gegenüber Behörden und ein Stück weit gegenüber der Polizei noch ziemlich ausgeprägt. Sinti und Roma sind jedoch nicht die einzige Betroffenengruppe von Antiziganismus.
Im Zuge der Diskussion über das sogenannte Bettelverbot in Luxemburg wurde nur selten erwähnt, dass dies sich spezifisch gegen die Minderheit der Roma, die zumeist aus Südosteuropa kommen, richten könnte. Aber oft wurde von Banden aus Ost- und Südosteuropa gesprochen.
Das ist in Deutschland nicht anders. Man versucht das irgendwie neutral zu verpacken. Wenn man sich dann aber die Kommentare in den sozialen Netzwerken anschaut, erhält der Hass freien Lauf. Dann wird von „Zigeunern“ gesprochen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Kommentare. Da kommen einige aus ihren Ecken gekrochen und versuchen dann, in die gleiche Kerbe zu hauen. Oft wird der Vorwurf an die Politik erhoben, man hätte das Problem der Bettelei mit den Roma importiert. Umso mehr geraten die Roma in den Fokus. Wir hatten kürzlich in Trier einen Fall, bei dem nachts das Haus einer Sinti-Familie, in dem außerdem ein Holocaust-Überlebender wohnt, mit Hakenkreuzen und rassistischen Beleidigungen beschmiert wurde. Die Hemmschwelle für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken.
Wer kommt zur Beratungsstelle Ihres Landesverbandes in Landau? Und mit welchen Anliegen?
Den Landesverband gibt es ja schon seit über 40 Jahren. Das meiste ist in dieser Zeit immer über Telefon gelaufen, oder die Menschen kamen direkt vorbei. Es sind zum einen Menschen, die Hilfe in gewissen Dingen benötigen und sich beraten lassen oder die sich für historische Aspekte interessieren. Zuletzt hat der Antiziganismus einen breiteren Stellenwert eingenommen. Das begann mit der Einkehr des Internets und der damit verbundenen Anonymität in jeden Haushalt. Der Antiziganismus spielt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen und in allen Gesellschaftsschichten ab. Die Diskriminierung fängt in der Schule an, geht weiter über den Wohnungsmarkt bis hin zum Arbeitsplatz.
Wie ist es eigentlich mit dem Bekenntnis der Sinti und Roma zu ihrer eigenen Herkunft angesichts dieser Diskriminierung?
Für viele Menschen ist es nicht gleich ersichtlich, dass man es mit Sinti oder Roma zu tun hat. Gerade auf die Sinti, die in Deutschland leben, wird man nicht gleich aufmerksam. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, würden Sie auch nicht sofort darauf kommen, dass ich Teil dieser Bevölkerungsgruppe bin. Schwarze Schafe gibt es übrigens in jeder Bevölkerungsgruppe, so eben auch bei uns. Bei Sinti und Roma wird aber eben besonders darauf geschaut. Dann werden die schwarzen Schafe stellvertretend für alle genommen. Man nimmt die Leute gewissermaßen in Sippenhaft. So sind im Endeffekt auch gewisse Stereotypen entstanden bzw. werden aufrechterhalten. Mit diesen haben wir tagtäglich zu kämpfen. Manche von uns verschweigen ihre kulturelle Identität. Dagegen gibt es berühmte Sinti wie etwa Marianne Rosenberg. Sie erzählte, dass ihr Vater, der selbst Aktivist war, sehr großen Wert darauf gelegt hat, dass sie es einmal besser als er haben sollte. Doch er hielt sie dazu an, dass sie ihre kulturelle Identität verschweigen sollte, weil dann die Karriere hätte schneller vorbei sein können, als sie dachte, und er um ihre Sicherheit fürchtete. Ich war auch eine Zeit lang im Dokumentationszentrum in Heidelberg tätig. Da begegnete mir der Fall einer Sinteza, die in einer Drogerie ein Praktikum machte. Sie hatte bereits mündlich einen Ausbildungsplatz zugesichert bekommen. Vor lauter Freude rief sie zwei Cousinen an, die sie in der Pause besuchten. Sie sprachen unsere Sprache, das Romanes. Eine Kollegin hörte es. Als man erfuhr, dass es sich um eine Sinteza handelt, teilte man ihr mit, dass man sich doch für eine andere entschieden hatte.
Man wird also gezwungen, seine Identität zu verleugnen.
Für viele trifft das zu, das ist das Schockierende. Man darf sich nicht zu etwas bekennen, was eigentlich wichtig wäre für die eigene Identität. Das hat sich bis heute kaum geändert. Was sich jedoch verändert hat, ist nur den Verdiensten der Minderheit selbst zu verdanken. Auch die Anerkennung als Opfer des Holocaust. Dafür waren sogar Hungerstreiks nötig.
Wird das Thema, dass die Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer fielen, nicht in den Schulen behandelt?
Anfang des Jahres nahm ich an einer Kundgebung in Trier anlässlich des Holocaust-Gedenktages teil. Da kam ein 22-jähriger Mann zu mir, dessen Schulzeit also nicht allzu lange zurücklag. Er sagte, er sei völlig schockiert, denn er habe nichts davon gewusst. Ich will nicht ausschließen, dass es in manchen Schulen behandelt wird. Aber in Hinsicht der geschichtlichen Aufarbeitung gibt es noch einiges zu tun – auch bezüglich der Sensibilisierung der Bevölkerung. Andererseits gibt es die gängigen Klischees, gegen die Sinti und Roma anzukämpfen haben. Es war ja nicht so, dass nach dem Krieg alles vorbei war. Auch in der Nachkriegszeit wurden wir weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Vor kurzem hat jemand auf Facebook gepostet, dass auf dem Trierer Messegelände angeblich Roma mit Wohnwagen seien, die ja auf die Wiese „kacken“ würden, weil an diesem Platz keine sanitären Einrichtungen wären. Und diese Leute, die solche Meldungen verbreiten, fühlen sich dann noch in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten, wenn gegen diese Form der Diskriminierung vorgegangen wird, und spielen sich als Opfer auf. Wir Sinti und Roma haben eine lange Geschichte in Deutschland und Europa. Ich kann meinen Stammbaum zum Beispiel bis ins Jahr 1426 zurückverfolgen.
Oft heißt es seitens der Mehrheitsgesellschaft, Sinti und Roma ließen sich nicht leicht integrieren.
Sinti und Roma sind seit über 600 Jahren hierzulande heimisch und sind Teil dieser Gesellschaft. Was Roma, die aus Osteuropa zu uns kommen, angeht, gilt wie für alle anderen auch: Integration ist keine Einbahnstraße. Man kann von jemandem, der in ein Land kommt, nicht einfach erwarten, er müsse jetzt alles, was seine Identität ausmacht, abschneiden. Nach dem Motto: Ihr seid jetzt Luxemburger oder Deutsche – und alles andere ist nicht mehr von Belang. Dies und die Angst, aufgrund der kulturellen Identität benachteiligt zu werden, führt beispielsweise dazu, dass viele vermeiden, in der Öffentlichkeit dazu zu stehen.
Ihr Großonkel, der Trierer Gastronom Christian Pfeil, ist hingegen an die Öffentlichkeit gegangen.
Genau, er hat als Überlebender des Holocausts sogar anlässlich des Gedenktags vor den Vereinten Nationen in New York gesprochen. Er kam im Januar 1944 im Konzentrationslager von Lublin zur Welt. Ein Teil der Familie wurde in Auschwitz ermordet. Nach dem Krieg kam die Familie nach Trier zurück. Auch dann wurden sie ausgegrenzt. Christian Pfeil eröffnete ein Lokal, auf das zwei Anschläge verübt wurden, bei denen viel zerstört wurde und die Wände mit Nazi-Symbolen beschmiert wurden. Außerdem erhielt er Morddrohungen.
Es gibt schon eine Solidarität zwischen den einzelnen Gruppen. Uns verbindet, historisch betrachtet, ein gemeinsames SchicksalVorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz
Sind die Menschen, die zur Informationsstelle kommen, um sich beraten zu lassen, vorwiegend Sinti oder Roma, also aus Westeuropa oder aus Ost- und Südosteuropa?
Sowohl als auch. Obwohl es die eine oder andere Sprachbarriere gibt, kommen tatsächlich auch Roma direkt aus Südosteuropa zu uns. Sinti sind zwar schon seit 1407 urkundlich erwähnt, aber auch Roma sind seit gut 250 Jahren hier. Oft läuft es so, dass man jemanden aus der Familie kennt und einander gegenseitig hilft. Zwar ist es aus kultureller Sicht schwierig und anmaßend, grundsätzlich für alle zu sprechen, aber es gibt schon eine Solidarität zwischen den einzelnen Gruppen. Uns verbindet, historisch betrachtet, ein gemeinsames Schicksal – obwohl mein Leben zum Beispiel ganz anders verlaufen ist als das eines Roma aus Bulgarien oder Rumänien, der im Westen dann oft unerwünscht ist. Dabei fallen die wenigsten in ihrer kulturellen Anonymität auf und wenn doch, wird man leider zu oft in eine Schublade gesteckt. Aber das ist wie bei den Muslimen, wenn bspw. türkische Gastarbeiterfamilien, die seit Jahrzehnten integriert hier leben, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit in einen Topf mit Terroristen geworfen werden.
Kommen die Roma aus ökonomischen Gründen nach Westen oder, weil sie verfolgt oder diskriminiert werden?
Also sie kommen bestimmt nicht hierher, weil es ihnen in Bulgarien und Rumänien so gut geht. In manchen Ländern gibt es zum Beispiel Fälle wie diesen, den ich aus einem Bericht über Ungarn kenne: Da stand an der Tür eines Restaurants, dass Hunde und „Zigeuner“ draußen bleiben müssten. In einem anderen Fall, ebenfalls in Ungarn, gewann ein Kommunalpolitiker eine Wahl, weil er das Wahlversprechen gegeben hatte, eine komplette Roma-Siedlung aufzulösen. Er ließ die Menschen auf das Gelände einer verlassenen Chemiefabrik bringen, wo viele von ihnen krank wurden. In manchen Gegenden gibt es keine Arbeitsgenehmigungen für Roma. Kein Wunder, dass diese dann in die Kriminalität abgleiten. Sie werden ghettoisiert, dorthin gedrängt, wo niemand leben möchte, und hausen in äußerst prekären Verhältnissen. Dann heißt es: Schaut mal da, die „Zigeuner“! Das Problem ist in Osteuropa noch mal viel größer als im Westen. Wenn Arbeitsplätze verloren gehen, sind es in der Regel zuallererst Roma, die Ihren Arbeitsplatz verlieren. Ich kann nicht erwarten, dass die Menschen, die hierher kommen, alles Ärzte oder Rechtsanwälte sind, wenn sie aus solchen Verhältnissen fliehen. Der Schlüssel zu Integration und Besserung liegt meines Erachtens vor allem im Bildungszugang und der gleichberechtigten Teilhabe.
Christian Kling
Der 37-Jährige, geboren und aufgewachsen in Trier, ist Angehöriger der Sinti und Nachfahre von Holocaust-Überlebenden in zweiter Generation. Seit etwa 13 Jahren setzt er sich für die Minderheit und deren kulturelle Identität ein. Seit 2020 ist er Mitglied des Vorstandes des rheinland-pfälzischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und hat im Februar 2024 den langjährigen Vorsitzenden Jacques Delfeld (sen.) in seiner Funktion als Vorsitzender des Landesverbandes beerbt.
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