Serbien / Nach der Trümmerkatastrophe von Novi Sad wächst der Unmut über Korruption und Vetternwirtschaft
Nach dem Tod von 14 Menschen bei dem Einsturz des Vordachs im neu renovierten Bahnhof von Novi Sad gerät Serbiens Regierung zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Es wächst der Unmut über Korruption, florierende Vetternwirtschaft und die gleichgeschaltete Justiz im gekaperten Parteienstaat.
Die von tonnenschweren Betonbrocken erschlagenen Toten bleiben in Serbien unvergessen. Nur die auf Tausende Schirme nieselnden Regentropfen und das Summen des Stromgenerators sind zu hören, während ein Sprecher auf der provisorischen Rednerbühne vor dem Regierungssitz in Belgrad langsam die Namen der vierzehn Todesopfer beim Einsturz des Vordachs im Bahnhof von Novi Sad verliest. Erst nach der Schweigeminute erschallen aus der Menge aufgebrachte „Mörder“-Rufe. „An euren Händen klebt Blut“, skandieren empörte Demonstranten.
„Korruption tötet“, prangt auf dem schwarzen Protestbanner mit den Abdrucken blutroter Hände. Die Opfer seien „nicht bei einem Unglück verstorben, sondern sie wurden getötet – durch Gier, Fahrlässigkeit und Verbrechen“, konstatiert der Rechtsanwalt Jovan Rajic auf der Rednertribüne.
Verantwortlich für das Verbrechen, bei dem 14 Menschen ihr Leben verloren, sei „der Staat“, ist auch Borislav Novakovic überzeugt, der frühere Bürgermeister von Novi Sad. In seiner Stadt sei „nicht nur unschuldigen Menschen das Bahnhofsvordach, sondern uns allen die Korruption auf den Kopf gefallen“: „Diebstahl, Arroganz und Inkompetenz sind keineswegs nur Mängel dieser Regierung. Sie machen ihr Wesen aus.“
Knapp zwei Wochen nach dem fatalen Einsturz des Vordaches des erst im Juli nach mehrmaliger Überholung neu eröffneten Bahnhofs sind die Trümmer vor der abgeriegelten Schalterhalle beseitigt. Doch der Skandal um geheim gehaltene Bauaufträge, verschollene Bau- und fehlende Betriebsgenehmigungen zieht bei dem von dem allgewaltigen Präsidenten Aleksandar Vucic mit eiserner Hand geführten EU-Anwärter immer größere Kreise: Im Land der verschobenen Ausschreibungen, in dem die Mitgliedschaft in der Regierungspartei SNS und die Nähe zum Dunstkreis des Landesvaters oft wichtiger als Qualifikationen und gesetzlich vorgeschriebene Prozeduren erscheinen, regt sich zunehmend Unmut über die florierende Vetternwirtschaft, tatenlose Behörden und die gleichgeschaltete Justiz im gekaperten Parteienstaat.
Rechtzeitige Warnung vor Baumängeln
Zwei Dutzend Demonstranten wurden in den letzten zehn Tagen bereits verhaftet. Auf die Frage, warum in der für 16 Millionen Euro renovierten Bahnhofshalle am 1. November das Vordach einkrachte, hat bisher indes weder die sich in Schweigen hüllende Staatsanwaltschaft noch Serbiens sonst so wortgewaltige Führungsriege eine schlüssige Antwort geliefert. „Wir wollen Antworten und erhalten nur Ausreden“, klagt die Architektin Ana Ferik Ivanovic.
Mehrmals habe er darauf hingewiesen, dass die Platten an der Fassade zur Überprüfung des Zustands der Stahlträger für das Vordach entfernt werden müssten, so der Bau-Ingenieur Zoran Djajic, der als Berater 2023 selbst auf der Baustelle beschäftigt war. Doch auf seine Eingaben sei weder von den beteiligten Bauunternehmen noch von den zuständigen Behörden reagiert worden. Stattdessen sei das Vordach mit der Verglasung der Fassade „zusätzlich belastet“ worden: „Die Stahlträger hielten die Last nicht aus. Das Vordach stürzte ein – und erschlug die Leute.“
„Abtritt, Abtritt“, skandieren die aufgebrachten Demonstranten vor dem Regierungssitz – und haben dabei vor allem Premier Milos Vucevic im Auge: Ausgerechnet der Mann, der Novi Sad von 2012 bis 2022 ein Jahrzehnt lang als Bürgermeister führte, machte sich nach der Trümmerkatastrophe nicht in seine Geburtsstadt, sondern zu einer Auslandsreise nach China auf.
Premier will keine Verantwortung übernehmen
Auch dank Serbiens hoffnungslos zerstrittener und zersplitterter Opposition sitzt Präsident Vucic genauso wie sein Regierungsstrohmann Vucevic vorläufig zwar weiter sicher im Sattel. Doch die Welle der Empörung über die vermeidbare Trümmerkatastrophe und die Forderungen nach Offenlegung aller geheimen Verträge mit chinesischen Staatskonzernen sowie der außerordentlichen Überprüfung aller staatlichen Bauprojekte der letzten zehn Jahre setzen den gewieften Strippenzieher zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.
Zwar hat mit dem abgetretenen Bauminister Goran Vesic bereits ein erstes Bauernopfer seinen Posten geräumt. Doch mehr könnten folgen. Er erwarte, dass „in den nächsten Tagen noch weitere Leute Verantwortung übernehmen und ihren Rücktritt anbieten werden“, so Premier Vucevic, der dabei keineswegs sich selbst im Auge zu haben scheint: „Ich habe mit einigen schon gesprochen.“
Nach dem Einsturz der Autobahnbrücke in Genua 2018 seien innerhalb von 48 Stunden 50 Verdächtige verhaftet worden, doch in der SNS werde offensichtlich noch nach einem „Opfer“ gesucht, dem die Verantwortung aufgehalst werden und der gegen Bezahlung ins Gefängnis einrücken könnte, mutmaßt Dragan Djilas, der Chef der oppositionellen SSP: „Die Korruption verschluckt unser Land. Das System hat nicht versagt, sondern es gibt kein System mehr. Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert sei. Sonst wiederholt sich so eine Katastrophe wie in Novi Sad erneut.“
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