Editorial / Scholz-Telefonat mit Putin ist Ausdruck von Hilflosigkeit
Offensichtlich vermochte keiner der europäischen Staats- und Regierungschefs, die von Berlin vor dem Telefongespräch zwischen Olaf Scholz und dem russischen Machthaber Wladimir Putin informiert wurden, den deutschen Kanzler von seinem Vorhaben abzubringen. Sofern es einer von ihnen versucht haben sollte. In seiner Selbstüberschätzung mag Scholz noch davon überzeugt sein, die Bundestagswahlen für seine Partei im Februar zu gewinnen. Mit diesem Problem müssen sich die deutschen Sozialdemokraten herumschlagen. Wenn Scholz aber glaubt, er könne Putin, der seit Monaten und Jahren Hunderttausende seiner Soldaten in den sicheren Tod schickt, um Respekt für Russland einzufordern, zu Verhandlungen bewegen, dann zeugt das von einer Realitätsferne, die sich Europa derzeit nicht leisten kann.
Er habe Putin klarmachen wollen, dass dieser „nicht damit rechnen darf, dass die Unterstützung Deutschlands, Europas und vieler anderer in der Welt für die Ukraine nachlassen wird“, zitiert die Nachrichtenagentur AFP am Sonntag den deutschen Kanzler. Würden die Europäer kurz davor stehen, das größte militärische Hilfspaket seit Beginn des Krieges auf den Weg in die Ukraine zu bringen, inklusive deutscher Taurus-Marschflugkörper, hätte dies der Warnung von Scholz den nötigen Nachdruck verleihen können. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil: Seitdem klar ist, dass Trump wieder ins Weiße Haus einziehen wird, verharren die Europäer in einer gewissen Schockstarre, was die Unterstützung der Ukraine anbelangt. Haben sie die Fähigkeiten und – in vielerlei Hinsicht – das Potenzial, den Anteil der US-Hilfe für Kiew auszugleichen? Und wer übernimmt die Führung? Wohl nicht Scholz, dem bereits unterstellt wird, sich mit seinem Telefonat im angehenden Wahlkampf als „Friedenskanzler“ profilieren zu wollen.
Direkten Schaden hat Scholz mit seinem Gespräch mit Putin – der ihm übrigens am Wochenende mit einem der schwersten Luftangriffe seit Beginn des Krieges, vornehmlich auf die ukrainische Energieinfrastruktur, eine deutliche Antwort zukommen ließ – keinen angerichtet. So wie der Kreml im Juli die „Friedensmission“ des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban in Moskau mit einem massiven Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew quittierte. Das Telefonat zwischen Berlin und Moskau veranschaulicht jedoch die Hilflosigkeit, mit der die Europäer nach wie vor in diesem Konflikt agieren. Selbst auf die jüngste Eskalation des Kreml, dem es gelungen ist, Nordkorea an seinem Feldzug gegen die Ukraine zu beteiligen, hat es außer vielen Worten der Empörung keine ernst zu nehmende Reaktion seitens des Westens gegeben.
Sollte sich Putin ernsthaft zu Verhandlungen genötigt sehen? Jetzt, da seine Truppen – wenn auch unter sehr hohen Verlusten (wen kümmert es) – quasi täglich Geländegewinne im Osten der Ukraine machen und die Aussicht darauf besteht, dass die ohnehin nur unzureichende militärische Unterstützung für die Ukraine in wenigen Monaten mit dem Amtsantritt Trumps zu einem großen Teil zusammenbrechen könnte sowie die kriegsbedingt desolate Energieinfrastruktur in der Ukraine im bevorstehenden Winter die Menschen und die Wirtschaft im Land zermürbt und somit die Widerstandskraft schwächt? An Frieden hat Putin in absehbarer Zeit kein Interesse.
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