Krieg der Bilder / Zwischen Verarbeitung und Propaganda: Zwei Comics erzählen vom 7. Oktober und seinen Folgen
Die Neunte Kunst ist eine der schnellsten: Ein Jahr nach dem 7. Oktober und mitten in den Wirren des Krieges erscheinen zwei Comics, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Horror dieser Tage auseinandersetzen. Sie zeigen: Der Kampf um Deutungshoheit wird auch in Panels und Sprechblasen ausgefochten.
Am Freitagabend hatte Yossef eine Gruppe junger Leute in der Nähe des Kibbuz Re’im abgeladen. Am Samstagnachmittag, so verabredeten sie, sollte der Taxifahrer sie wieder abholen – nach dem Ende des Nova-Festivals. In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 klingelt plötzlich Yossefs Handy. „Yossef, du musst kommen, schnell!“, ruft die Stimme am anderen Ende. Kämpfer der Hamas sind da gerade auf das Festivalgelände in der Nähe des Gazastreifens eingedrungen. Der Taxifahrer wirft sich hinters Steuer und fährt los, vorbei an Raketen, Maschinengewehrsalven und Terroristen mit motorisierten Gleitschirmen – mitten ins Herz des brutalen Überfalls der Hamas. Am Ende des Tages wird Yossef Aziadna, Taxifahrer, Beduine, nicht praktizierender Muslim, stolzer Israeli, die Leben von insgesamt 30 jungen Menschen gerettet haben.
Die Geschichte von Yossef, dem Taxifahrer, ist nur eine von vielen Geschichten, die der 7. Oktober geschrieben hat, und die der israelische Illustrator Ouri Fink in dem herzzerreißenden Band „Au Coeur du 7 Octobre. Témoignages“ versammelt hat. Zwölf Künstler und Künstlerinnen erzählen darin persönliche Erlebnisse dieses Schicksalstages nach. Manche tragisch, manche mit Happy End, ergreifend sind sie alle. Da ist die Geschichte von Aner, der einen Schutzraum voller Menschen verteidigt, indem er Granate um Granate fängt und zurückschleudert, die Hamas-Terroristen in den Raum werfen. Oder die Geschichte der jungen Amit, die Medizin studieren möchte und als Ersthelferin die verletzten Verteidiger eines Kibbuz versorgt.
Unmittelbare Verarbeitung
Der Schock des 7. Oktober, er schlägt einem frisch und unmittelbar entgegen auf den Seiten dieses Comics. Man muss ihn bisweilen beiseitelegen, so emotional überfordernd ist die Lektüre. „Au Coeur du 7 Octobre“ ist im August erschienen, gerade mal zehn Monate nach den Ereignissen dieses Tages. In Frankreich, wohlgemerkt, nicht in Israel – obwohl alle Beteiligten Israelis sind. „Il n’y aurait pas de meilleur endroit au monde où le statut culturel du neuvième art donnerait à ces histoires la place qu’elles méritent“, schreibt Herausgeber Ouri Fink im Nachwort.
Möglich aber auch, dass die israelische Verlagslandschaft für eine solche Veröffentlichung noch nicht bereit war. Zu frisch sind die Wunden, zumal der Krieg im Land noch immer andauert, viele Geiseln sich noch immer in der Hand der Hamas befinden. Die Verarbeitung des 7. Oktober und seiner Folgen hat gerade erst begonnen. Es drängt sich die Frage auf: Wie kann man sich künstlerisch mit etwas auseinandersetzen, was sich gerade erst entfaltet? Auf das man nicht in der kühlen, wissenden Rückschau blicken kann, sondern dem man sich im erhitzten Gemüt des unübersichtlichen Augenblicks stellen muss?
Man muss sich diese Unmittelbarkeit ins Gedächtnis rufen – sie lässt die eine oder andere Emotionalisierung verzeihen. Oder auch die eine oder andere Polemik. So wie in Joe Saccos „Guerre à Gaza“, dem zweiten Comic, der sich den aktuellen Geschehnissen in Nahost annähert – dieses Mal jedoch aus palästinensischer Perspektive.
„Guerre à Gaza“ ist im Vergleich zu „Au Coeur du 7 Octobre“ ein deutlich nüchternerer Beitrag. Was auch daran liegt, dass hier weniger das tragische Einzelschicksal im Zentrum steht, sondern die Politik. Joe Sacco, US-Amerikaner mit maltesischen Wurzeln, ist schon seit vielen Jahren bekannt für seine Comic-Reportagen aus verschiedenen Teilen der Welt: Bosnien, Irak, dem Kaukasus, Indien, aber eben auch Palästina. Einer, der dorthin geht, wo andere wegschauen. Der seine Stimme nutzt, um den Ruf nach Gerechtigkeit anderer zu verstärken. „Guerre à Gaza“ macht auf seinen kurzen 32 Seiten keinen Hehl daraus, auf wessen Seite Sacco sein literarisches Gewicht wirft.
Ringen um Deutungshoheit
Den Überfall der Hamas als Auslöser des aktuellen Gaza-Krieges klammert Sacco aus, er beherrscht nur die allererste Sprechblase auf der allerersten Seite, den Beginn des einführenden Monologs des Autors. Aber schon dessen nächste Worte verschieben den Fokus: „Quiconque s’intéresse aux événements au Moyen-Orient, même de manière superficielle, savait que la réponse d’Israël serait fulgurante et disproportionnée.“ Legitime Selbstverteidigung oder Genozid, er wolle beiden Sichtweisen gerecht werden, schreibt Sacco nicht ohne Zynismus, und schafft den Neologismus: „auto-défense génocidaire“. Inwiefern das beiden Seiten gerecht wird, obliegt den Lesern und Leserinnen.
Das Ringen um Deutungshoheit, es macht auch vor den Comics nicht halt. Ein Problem, mit dem sich beide Werke, so unterschiedlich sie auch sein mögen, auseinandersetzen müssen: Wie findet man neue Bilder für etwas, was so eindrücklich bereits in der Bilderschwemme der Realität vermittelt und transportiert wurde? Kämpft man gegen diese Bilder im kollektiven Gedächtnis an? Versucht man sie zu ergänzen oder doch zu überschreiben – falls das mit den grässlichen Videos der Hamas-Terroristen und den Fotos von toten Kindern in den Trümmern von Gaza überhaupt möglich ist?
Sacco geht diesem Problem in „Guerre à Gaza“ ein wenig aus dem Weg. Den Krieg zeigt er – trotz des Titels –kaum. Szenen aus Palästina gibt es wenige, sein Fokus liegt auf der Rolle des Westens, vor allem der USA. Einen Steuer-Scheck von Saccos Comic-Alter-Ego fängt die US-Regierung direkt im Briefkasten ab, transportiert ihn über Nacht zum Militär, wo er das letzte Puzzlestück einer Bombe bildet, die Benjamin Netanjahu höchstpersönlich über Gaza abwirft. Sacco stellt die Verantwortung der Welt in den Mittelpunkt, deren „Mitschuld“ am palästinensischen Leid durch die Unterstützung Israels, die der Autor am Ende von „Guerre à Gaza“ auf einen höllischen literarischen Höhepunkt führt. Überhaupt ist es Netanjahu, den Sacco als
Pars pro Toto für Israel nimmt – neben israelischen Soldaten, die Selfies in den Ruinen von Gaza schießen. Das funktioniert nur in der absoluten Überspitzung, wenn zum Beispiel US-Präsident Biden mit dem israelischen Ministerpräsidenten feilscht, der als strafender alttestamentarischer Gott auf einer Wolke sitzend über Sodom und Gomorrha richtet.
Auch „Au Coeur du 7 Octobre“ überspitzt zuweilen, doch die Vielfalt der Stimmen und Stile bestimmen den Gesamteindruck. Dem Horror der Hamas begegnen die Künstler mal explizit realistisch, mal comichaft verzerrt. Ouri Fink selbst zeichnet die Dschihadisten mit roten Panzerknacker-Binden und wirren Kringeln statt Augen, in Tohar Sherman-Friedmans Geschichte werden die Terroristen jedoch zu Wölfen entmenschlicht. Die Bilder der beiden Comic-Bände müssen auch in einem größeren Kontext gelesen werden: Das Bild (auch das gezeichnete) als wirkmächtige – vielleicht nicht gleich Propaganda, aber mindestens – Einflussnahme auf den weltweiten Informationskrieg, der an diesem Konflikt hängt.
Da ist zum Beispiel die Sache mit den angeblich von Hamas-Terroristen geköpften Babys. Nach dem 7. Oktober hat sich diese Geschichte verbreitet, mehrfach hat auch US-Präsident Joe Biden darauf angespielt – was Sacco in einem Kapitel von „Guerre à Gaza“ zeigt. Einen sicheren Beweis für diesen spezifischen Vorfall gibt es jedoch nicht, auch wenn andere Grausamkeiten der Terroristen gegenüber Kindern und vor allem Frauen belegt sind. Sacco versucht diese Episode als kriegstreibende Propaganda zu entlarven. Sein Werk „Guerre à Gaza“ agitiert, während Finks „Au Coeur du 7 Octobre“ den Fokus auf Gemeinsamkeit nicht verliert. Am eindrucksvollsten zeigt sich das in der Geschichte des Taxifahrers Yossef. Nach der Rettung der jungen Festivalgänger bekommt er einen anonymen Anruf auf Arabisch: „Wir haben dein Foto auf Facebook gesehen, du hast Juden gerettet, wir kriegen dich, du Hundesohn.“ Yossefs Antwort: „Ich habe Menschen gerettet.“
„Au Coeur du 7 Octobre“ und „Guerre à Gaza“ verarbeiten beide jüngste Vergangenheit, die quasi noch Gegenwart ist. Und doch reihen sie sich ein in eine lange Geschichte. Der Nahostkonflikt, er wird seit vielen Jahrzehnten auch in den Panels von Comics und Bildergeschichten ausgetragen. Und nicht selten überschreiten die Darstellungen dabei die Grenze zum Antisemitismus. Man denke dabei an die Debatte zur documenta fifteen im Jahr 2022, bei der es auch um problematische Zeichnungen israelischer Soldaten im historischen Material des Projekts „Archives des luttes des femmes en Algérie“ ging. Noch vor wenigen Monaten zeigte das Palais de Tokyo in Paris in seiner Ausstellung „Past Disquiet“ ein palästinensisches Kinderbuch aus den Siebzigerjahren, das in einer Bildergeschichte zum bewaffneten Kampf gegen Israel aufruft – und von den Ausstellungsmachern erschreckend unkommentiert blieb.
Dass auch Sacco diese Grenze zum Antisemitismus in „Guerre à Gaza“ überschreitet, gibt seinen hehren Motiven internationaler Solidarität am Ende einen sehr bitteren Beigeschmack. In einer Episode, in der die Mutter des Autors und ihre Erinnerungen an den 2. Weltkrieg auftauchen, vergleicht Sacco die israelischen Bomben auf Gaza direkt mit den Bomben der Nationalsozialisten, Hakenkreuzflugzeuge inklusive. Der näher liegende Vergleich des alliierten Bombardements Nazideutschlands, das schließlich zur Kapitulation und zum Ende des Krieges führte, kommt ihm dabei nicht in den Sinn.
Informationen
Ouri Fink u.a., „Au Coeur du 7 Octobre“, Editions Delcourt 2024, ISBN 978-2-413-08583-6
Joe Sacco, „Guerre à Gaza“, Futuropolis 2024, ISBN 978-2-7548-4579-3
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