Deutschland / Die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel hat ihre Memoiren veröffentlicht
Die Memoiren von Kanzlerin Angela Merkel wurden mit Spannung erwartet. Jetzt liegt das Buch „Freiheit“ vor. Unser Fazit: Spannend, mit vielen überraschend persönlichen Eindrücken der Altkanzlerin. Die Lektüre lohnt sich.
Die Politikerin steht auf einer Bühne und denkt nach: „Hier stehst Du jetzt als Parteivorsitzende, das ficht Dich nicht an, das bekommst Du hin. Aber Du bist auch Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. (…) Welche Optionen hast Du? Sollst Du einfach gehen, wenn es gar kein Ende nimmt? Aber wer geht, ist immer im Unrecht, dachte ich und sagte mir schließlich: Es wird vorübergehen.“
Die Frau, die da nachdenkt, ist die Kanzlerin. Angela Merkel steht auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 auf einer Münchner Bühne. Neben ihr CSU-Chef Horst Seehofer, der die CDU-Vorsitzenden neben ihm mit langen Ausführungen regelrecht abkanzelt. Das Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer hatte danach einen „Tiefpunkt“ erreicht. Es ist nur eine politische Anekdote von vielen, in denen man nun erfährt, was wirklich hinter der Stirn der langjährigen deutschen Regierungschefin vorging.
Die mit Spannung erwarteten Memoiren „Freiheit: Erinnerungen 1954 – 2021“ der Altkanzlerin sind auf dem Markt. Auf über 700 Seiten wird es teilweise historisch richtig spannend. Entstanden ist ein sehr persönliches Werk, von einer Politikerin, die bislang nie viel Einblick in ihr Innenleben gegeben hat. Sie schreibt in der Ich-Form und blickt anekdotenhaft, gemeinsam mit ihrer früheren Büroleiterin und jetzigen Beraterin Beate Baumann, auf viele weltpolitische Ereignisse zurück.
Wie war etwa das Zusammentreffen mit US-Präsident Donald Trump? „Wir redeten auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Trump auf der emotionalen, ich auf der sachlichen“, schreibt Merkel über ein Treffen der beiden am 17. März 2017. Und wie ist ihr Verhältnis zu Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz? „Es gab ein Problem, und zwar von Beginn an: Wir wollten beide Chef werden.“ Merz sei dann „sehr enttäuscht“ gewesen, als Merkel ihm 2002 den Fraktionsvorsitz wegnahm. 2024 scheint das Verhältnis zumindest befriedet. „Ja, man wird nicht ohne Grund Kanzlerkandidat“, sagt Merkel im aktuellen Spiegel-Interview.
Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal.ehemalige deutsche Kanzlerin
Der unwahrscheinliche Weg einer gelernten DDR-Bürgerin vom Zentralinstitut für Physikalische Chemie in Berlin-Adlershof bis ins Bundeskanzleramt lässt sich am besten an zwei wichtigen Wendemarken beschreiben. Die erstere datiert unmittelbar nach den Ereignissen des Mauerfalls am 9. November 1989. Da wird ihr klar, so schreibt Merkel, dass mit dem Ereignis sich auch ihr Leben grundlegend verändern wird. Sie sieht sich um und landet bei der Bürgerrechtsbewegung Demokratischer Aufbruch (DA).
Immer auch bereit sein, Kanzlerin zu werden
Dass Merkel nicht unbeobachtet bleibt, kann man in ihrer Biografie nur erahnen. Ihr Mentor Günther Krause bringt sie als mögliche Kandidatin für ein CDU-Bundestagsmandat bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen ins Gespräch. Merkel beschreibt genau, wie sie sich mit Hilfe von Vertrauten und geschickten Manövern in ihrem Wahlkreis 267 in Rügen und Stralsund durchsetzen kann und schließlich ein Mandat erringt.
Die zweite Wegmarke ist die Wahl zur CDU-Vorsitzenden im Jahr 2000. Nach dem Spendenskandal ihrer Partei wird sie ins Gespräch gebracht. „Machtpolitisch würde ich, davon war ich überzeugt, die Gelegenheit, Vorsitzende der neben der Sozialdemokratischen Partei zweiten großen Volkspartei in Deutschland zu werden, kein zweites Mal bekommen.“ Und sie denkt in diesem denkwürdigen Jahr, „als sich die Ereignisse überschlugen“, dass ein CDU-Vorsitzender immer auch bereit sein musste, Kanzler oder Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu werden.
Das Gesellenstück zu dieser Leistung hat sie schon vorher abgelegt – als Ministerin erst für Jugend und Frauen, dann für das prestigeträchtige Umweltressort, schließlich als Generalsekretärin der CDU. Es läuft nicht alles glatt, und sie gibt selbst zu, wie zu große Vorsicht politische Durchbrüche und Visionen eher verhindert.
Sie wird deutlich, aber nie verletzend
Am 22. November 2005 ist sie nach vielen Rückschlägen, einem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur 2002 zugunsten des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber, und einem mehr als wackeligen Wahlsieg in einer vorgezogenen Bundestagswahl am Ziel. Sie wird als erste Frau zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Das Ereignis schildert sie eindringlich, fast poetisch. Sie hat mit jeder Faser ihrer Person dieses Ziel verfolgt.
Um die Veröffentlichung des Buches wurde ein großer Hype gemacht. Das Druckhaus wurde abgeschirmt. „Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, ein solches Buch zu schreiben. Das änderte sich erstmals 2015, zumindest ein wenig. Damals hatte ich entschieden, die in der Nacht vom 4. auf den 5. September aus Ungarn kommenden Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze nicht abweisen zu lassen. Diese Entscheidung, vor allem ihre Folgen, erlebte ich als eine Zäsur in meiner Kanzlerschaft. Es gab ein Vorher und ein Nachher.“ Sie will ihre Version der Ereignisse schildern, betont sie.
In den weiteren Kapiteln lässt sie ihre Leserinnen und Leser an Gedanken und Einschätzungen, die sie in entscheidenden Momenten ihrer Kanzlerschaft getroffen hat, fast in Echtzeit teilhaben. Es ist ein leicht zu lesendes Buch. Sie wird deutlich, aber nie verletzend. Wer auf eine Abrechnung gesetzt hat, wird enttäuscht. Doch es wird auch klar, dass sie immer wieder mit Männern unterschiedlicher Parteien ihre Schwierigkeiten hatte. Im Kapitel „Deutschland dienen“ geht es um Merkels Kanzlerschaft vor und nach dem 4. September 2015, dem wichtigsten Tag in der Flüchtlingskrise. Merkel geht dabei nicht chronologisch vor. Vielmehr wählt sie Anlässe wie etwa die Euro- und die Flüchtlingskrise und springt in ihrer Erzählung zeitlich auch nach hinten, verbindet aktuelle Politik und Entwicklungen.
Auch ihr berühmtester Satz kommt vor
So berichtet sie über das G8-Treffen (mit Russland) in Heiligendamm an der Ostsee, zeichnet die Geschehnisse während der Eurokrise akribisch nach und widmet der Ukraine viele Seiten. Zur ihrer Ablehnung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft betont sie: „Ich verstand den Wunsch der mittel- und osteuropäischen Länder, so schnell wie möglich Mitglied der NATO zu werden (…) Doch zugleich mussten auch die NATO und ihre Mitgliedstaaten bei jedem Erweiterungsschritt die möglichen Auswirkungen auf das Bündnis prüfen, auf seine Sicherheit, Stabilität und Funktionsfähigkeit. Die Aufnahme eines neuen Mitglieds sollte nicht nur ihm ein Mehr an Sicherheit bringen, sondern auch der NATO.“ Beim Thema Ukraine merkt man der Autorin auch an, dass sie sich ungerecht behandelt fühlte, als man am Tag des Kriegsbeginns ihre Bilder aus einem Italien-Urlaub neben Bildern aus Kiew veröffentlichte.
Und sie kommt auf ihren berühmtesten Satz zu sprechen: „Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal. Er war Ausdruck einer Haltung. Man kann sie Gottvertrauen nennen, Zuversicht oder einfach die Entschlossenheit, Probleme zu lösen, mit Rückschlägen fertig zu werden, Tiefpunkte zu überwinden und Neues zu gestalten“. So habe sie Politik gemacht. so sei auch dieses Buch entstanden. „Mit dieser Haltung, die auch eine Erfahrung ist: Alles ist möglich, weil nicht nur die Politik dazu beiträgt, sondern jeder einzelne Mensch seinen Anteil daran haben kann.“
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