Migration / EU-Asylpolitik im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit
Beim Kurzbesuch von Magnus Brunner, dem neuen EU-Kommissar für Inneres und Migration, in Schengen ging es um Freiheit und Sicherheit. Zur Mission des Österreichers gehört nicht zuletzt die Umsetzung des europäischen Migrations- und Asylpakets.
Als die Tür des Schengener Schlosses aufgeht und Magnus Brunner in Begleitung mit Innenminister Léon Gloden nach draußen tritt, warten bereits die Journalisten, Fotografen und Kameraleute. Der neue EU-Kommissar für Inneres und Migration, bis vor kurzem noch österreichischer Finanzminister, weist bereits darauf hin, dass Luxemburg das Ziel seines ersten Auslandsbesuchs sei. Dass dafür Schengen ausgesucht worden ist, begründet er damit, dass der Ort „eine ganz besondere Bedeutung für Europa“ habe: „Schengen steht für eine der Erfolgsgeschichten, die wir als Europäische Union neben dem Euro und dem Binnenmarkt geschrieben haben. Schengen steht für Freiheit und so vieles, was die EU ausmacht.“
Der Schengen-Raum sei weltweit der Raum, wo freie Bewegung möglich ist, so Brunner weiter. „Das ist schon etwas Besonderes“, betont er. Die Bemerkung eines Journalisten, dass es aber wieder Kontrollen an etlichen Binnengrenzen des Schengen-Raumes gebe, kontert der Politiker von der konservativen ÖVP mit folgenden Worten: „Ich verstehe, dass das für Unruhe sorgt und nicht angenehm ist, wenn man etwa im Stau steht. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass die Sicherheit innerhalb Europas gewährleistet wird, aber auch die Außengrenzen entsprechend geschützt werden. Deshalb haben wir auch den Schengen-Kodex geschaffen.“ Schließlich gehe es um mehr, sagt Brunner, „etwa um die Sicherheit in Europa und um die Außengrenzen“.
Er selbst sei an einer Schengen-Außengrenze aufgewachsen, sagt der 52-Jährige. Die Schweiz war zu jener Zeit noch nicht Teil des Schengen-Raumes. Sie gehört erst seit 2008 dazu. Dass der weltweit größte grenzfreie Raum mit mehr als 450 Millionen Einwohner ein Erfolgsprojekt sei, sehe man nicht zuletzt daran, dass einige EU-Mitgliedstaaten wie Bulgarien und Rumänien kurz vor der Aufnahme stehen. Es gehe aber auch darum, „wieder Vertrauen zurückgewinnen“, und darum, den Menschen das Gefühl zu geben, „dass wir die Kontrolle über das, was in Europa geschieht, um zu wissen, wer nach Europa kommt und es verlässt, zurückbekommen“. Daher sei der Außengrenzschutz notwendig. Aber auch das Gespräch sei wichtig. Kurz merkt er an: „Vielleicht wurde zu wenig kommuniziert. Das möchte ich auf jeden Fall ändern.“
Jahrelanges Ringen um Asylreform
Nach der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und 2016 wurde jahrelang um ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) gerungen. Schließlich verabschiedete der Rat der Europäischen Union im Mai ein Reformpaket. Im Juni des Vorjahres hatte der Rat für Justiz und Inneres der Europäischen Union ein Maßnahmepaket zur Reform vorgelegt. Das EU-Parlament verabschiedete es dann im April dieses Jahres. Mit der Reform sollen die zentralen Probleme des bisherigen GEAS gelöst werden wie etwa die ungleiche Belastung der EU-Mitgliedstaaten durch die Anzahl der ankommenden Geflüchteten.
Dass die Entwicklung des GEAS mit dem europäischen Integrationsprozess verbunden sei, betont Birgit Glorius. Die Migrationsforscherin von der Universität Chemnitz hat das Reformpaket analysiert. Insbesondere das Schengener Abkommen mit dem Wegfall der Grenzkontrollen habe Anreize für Asylsuchende geschaffen, sich spezifische Aufnahmeländer auszusuchen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Glorius verweist darauf, dass im Schengener Durchführungsabkommen von 1990 erstmals ein Mechanismus festgelegt worden sei, mit dem die staatliche Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen bestimmt wurde. In einem weiteren Schritt trat 1997 die „Dublin-Regelung“ in Kraft. Darauf folgten „Harmonisierungsprozesse im Bereich der Flüchtlingsaufnahme mit dem Ziel, dass Asylsuchende in der gesamten EU unter gleichen Bedingungen internationalen Schutz erhalten“. Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 sei das GEAS ein Teil des „acquis communautaire“, des verbindlichen Rechtsbestands, geworden. Der Flüchtlingsschutz sollte auf dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität und Verantwortungsteilung aufbauen. Damit war es jedoch seit dem Anstieg der Ankunftszahlen seit 2011, dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien, und vor allem im „langen Sommer der Migration“ 2015 nicht weit her. Dieser sei ein „Stresstest“ gewesen, so Glorius. Erst das Abkommen mit der Türkei und eine „Kaskade von Grenzschließungen“ 2016 brachte den Zustrom zum Erliegen.
Ein erster Befund in ihren Untersuchungen sei das Scheitern der Dublin-Regelung, schreibt Glorius, „der Bestimmung der Zuständigkeit zur Durchführung von Asylverfahren, die jeweils bei dem Staat der Erstankunft innerhalb der Europäischen Union liegt“. Die Erstankunftsländer seien häufig solche gewesen, deren Wohlstandsniveau deutlich unter denen der EU-Gründungsmitglieder lag. Die Folge waren laut der Migrationsforscherin, dass die meisten Geflüchteten in reichere Länder weiterreisten – etwa nach Deutschland oder Luxemburg. „Die praktische Dysfunktionalität des Dublin-Systems“ und seine durch das „Erstverursacherprinzip“ hervorgerufene Unfairness war nach Glorius‘ Worten „ein wesentlicher Ausgangspunkt der jüngeren Reformbemühungen“.
Bis es zum Reformpaket kam, sollten weitere Jahre verstreichen. Erst unter der spanischen Ratspräsidentschaft kam es im Juni 2023 zu einer Einigung. Danach wurden in einem Trilog zwischen Europäischer Kommission, dem Rat der Europäischen Union und dem Europaparlament die noch strittigen Punkte diskutiert. Das neue GEAS ist nun hauptsächlich in vier Verordnungen verankert: „Mit der Screening-Verordnung wird eine verbindliche Identitätsfeststellung und Sicherheitsüberprüfung aller irregulär einreisenden Personen direkt an den EU-Außengrenzen festgeschrieben. Dazu gehören die Abnahme von Fingerabdrücken, die Identitätsfeststellung sowie eine Prüfung des Gesundheitszustands und potenzieller Sicherheitsrisiken. Das Verfahren soll in der Nähe der Außengrenze stattfinden und maximal sieben Tage dauern. Die einreisenden Personen können in dieser Zeit festgehalten werden.“
In der Asylverfahrensordnung werden Asylgesuche von Personen, die geringe Chancen auf einen Schutzstatus haben, in als „Grenzverfahren“ bezeichneten Schnellverfahren von maximal zwölf Wochen behandelt. Die sogenannte Asyl- und Migrationsmanagements-Verordnung regelt unterdessen die Verteilung der Schutzsuchenden innerhalb der EU. Die Bestimmungen der Zuständigkeit für Asyl- und Transferverfahren bleiben bestehen. Ein vierter Baustein, die Krisenverordnung, soll das Vorgehen während einer Krise, z.B. durch eine Massenankunft von Geflüchteten, regeln. Die Neuankömmlinge können bis zu 18 Wochen unter haftähnlichen Bedingungen an der EU-Außengrenze festgehalten werden.
Einigung auf kleinsten Nenner
Die Reform ist ein politischer Kompromiss auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. An dem Paket ist einiges zu kritisieren. So wird es vielen Geflüchteten durch die Schnellverfahren erschwert, ihren individuellen Schutzbedarf zu beweisen. Auch sind Zweifel an einer menschenwürdigen Unterbringung in den Lagern an der EU-Außengrenze angebracht. Erinnert sei an das überfüllte Lager von Moria auf Lesbos, das 2020 abbrannte. Was die Solidarität bezüglich der Verteilung der Flüchtlinge angeht, wurden die Aussichten bereits durch die Verweigerungshaltung von Polen und Ungarn deutlich geschmälert.
Vor allem der Ansatz, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern, hat in jüngster Zeit Blüten getrieben, und bereits in der Praxis Australiens, Asylsuchende in pazifischen Inselstaaten unterzubringen, einen Vorläufer gefunden. Damit senkte die australische Regierung die Zahl der Geflüchteten, die in „Down Under“ ankamen, gegen null. Ein jüngeres Beispiel ist der „Ruanda-Plan“ der vormals konservativen britischen Regierung. Das Vorhaben, Asylbewerber in das ostafrikanische Land abzuschieben, wurde jedoch von der aktuellen Labour-Regierung fallen gelassen. Zuletzt trat Italiens Regierung mit ihrem „Albanien-Modell“ hervor. Die Befürworter der „Auslagerung“ sehen in dem Drittstaatenmodell eine Möglichkeit, Migranten abzuschrecken. Die Gegner warnen u.a. vor der Lagerinternierung, prangern die europäische Festungsmentalität an und bezweifeln die abschreckende Wirkung.
„Die Wahrheit liegt in der Mitte“, meint Daniel Thym. Der Inhaber des Lehrstuhls für Europa- und Völkerrecht, der das Forschungszentrum für Ausländer- und Asylrecht in Konstanz leitet, sieht einen überzeugenden Politikansatz nur darin, wenn „die handelnden Länder weiterhin selbst eine aktive Verantwortung für den Flüchtlingsschutz übernehmen, anstatt diesen auf sichere Drittstaatmodelle abzuwälzen“. Das könne erreicht werden, indem „man die Asylsysteme in den Ersatzaufnahme- und Transitstaaten generell stärkt, wie das die EU seit Jahren in der Türkei macht“. Eine politisch ausgewogene Antwort setze voraus, im großen Umfang eine legale Einreise zu ermöglichen. „Eine Rückführung würde allen drohen, die irregulär über das Mittelmeer oder den westlichen Balkan einreisen“, schreibt Thym in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte, „während im Gegenzug ein Kontingent an besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, die der UNHCR auswählt, legal mit dem Flugzeug einreisen dürfen.“
„Asyl-Lotterie“ und Regelwirrwarr
Das europäische Asylsystem ist längst zu einem Lotteriespiel geworden, weiß der niederländische Migrationsforscher Ruud Koopmans: „Geografische Lage, Geld, Fitness und Glück auf dem gefährlichen Land- und Seeweg bestimmen, wer es an die Grenze schafft, Asyl beantragen und einwandern kann.“ In seinem Buch „Die Asyl-Lotterie“ weist er darauf hin, „dass wir so nicht den Hilfsbedürftigen folgen und uns zahlreiche Probleme bei der Integration einhandeln“. Das Regelwirrwarr sei ein Symptom einer fehlgeleiteten Asylpolitik. Honoriert wird, wer sich durchschlagen kann. Wer es nicht schafft, habe das Nachsehen. Dadurch falle die Integration von Geflüchteten schwerer und werde die innere Sicherheit bedroht.
Die Einigung auf das Reformpaket der EU ist gerade gut ein halbes Jahr alt und noch nicht einmal umgesetzt – schon plädieren mehrere Länder für eine Verschärfung der darin enthaltenen Maßnahmen. Sie fordern, einen nationalen Notstand auszurufen, und führen Sonderregelungen ein: etwa die polnische Regierung mit einem neuen Gesetz, um die individuelle Prüfung von Asylgesuchen zeitweise aufzuheben; auch Frankreich plant eine Verschärfung, um etwa irreguläre Migranten bis zu sieben Monate inhaftieren zu können; und schließlich gehört auch die bereits genannte Einführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen durch Deutschland und die Niederlande dazu. Die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid zum Beispiel will das „härteste Asylgesetz aller Zeiten“ einführen.
Frontex meldet Rückgang
Dabei ist die Zahl der Anträge in der EU gar nicht gestiegen, sondern in diesem Jahr zurückgegangen, auch dort, wo von einem Notstand die Rede ist. Die Europäische Grenzschutzagentur (Frontex) meldete im Oktober einen generellen Rückgang der versuchten Grenzübertritte in der EU im Vergleich zu 2023 um 42 Prozent. Allerdings ist etwa die Zahl der Geflüchteten im Verhältnis zur Einwohnerzahl über die vergangenen Jahre gestiegen: in Deutschland von 0,6 auf 3,7 Prozent, in Italien auf von 0,2 auf 0,8 Prozent. Den stärksten Anstieg gab es 2022 durch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Die Zunahme habe dazu geführt, dass viele Flüchtlinge nicht mehr aus ihren Aufnahmestrukturen ausziehen könnten, stellt Susan Fatzke fest. Die Politikanalystin vom Migration Policy Institute beobachtet einen „Rückstau“ als Folge politischer Entscheidungen. So sei etwa das Aufnahmesystem in Belgien und den Niederlanden stark unterfinanziert. „Man spürt eine Erschöpfung in der Flüchtlingspolitik“, so Fatzke, „und diese Erschöpfung stärkt das Gefühl von Krise und Kontrollverlust.“ Das Narrativ des Notstands bzw. des permanenten Ausnahmezustands gehört seit langem zum Repertoire rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien.
Nicht nur: Auch christdemokratische Politiker wie in Deutschland Bundeskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spielen auf dieser Klaviatur. Nicht zu vergessen ist das Umschwenken der sozialdemokratischen Regierungspartei in Dänemark auf eine harte Asylpolitik. Die Parteien vom rechten Rand treiben andere Parteien, vor allem konservative, vor sich her. Diese versuchen sie zu kopieren, indem sie weiter nach rechts rücken, was ihnen nur bedingt Erfolge bringt.
Im Jahr 2023 waren nach UNHCR-Schätzungen 120 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Gewalt, Krieg und Unterdrückung, fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr – als Flüchtlinge, Asylsuchende, Schutzbedürftige und fast 70 Millionen als Binnenvertriebene. Letztere leben vorwiegend in Afrika, Asien und Ozeanien. Die Zahl der Fluchtbewegungen ist seit 2011 massiv gestiegen. Laut UNHCR mussten 75 Prozent der Geflüchteten aus den folgenden fünf Ländern fliehen: Afghanistan, Syrien, Venezuela, der Ukraine und dem Sudan. Ihre Migration ist oft von Leid und Verlust geprägt. In Europa werden sie oft als Sicherheitsrisiken instrumentalisiert. Eine auf Menschenrechten und Menschenwürde basierende Politik spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Schengen auf dem Prüfstand
Bei Magnus Brunners Besuch in Luxemburg war viel von Freiheit und Sicherheit die Rede. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die europäische Asylpolitik, mit der die Idee von Schengen auf den Prüfstand gestellt wird. Dabei verlassen auch die Geflüchteten ihre Heimat primär auf der Suche nach friedlicheren und sichereren Verhältnisse – und nach einem Leben in Freiheit.
Bevor Innenminister Léon Gloden mit dem neuen EU-Kommissar das Schengen-Lyzeum von Perl aufsuchte, um den sogenannten Jugenddialog der Brüsseler Kommission zu beginnen, traten die beiden Politiker auf die Place des Etoiles. Gloden merkte an: „Wir sind gegen Grenzen im Innenraum Europas und dürfen nicht zulassen, dass wieder Grenzen in den Köpfen der Menschen entstehen. Das wäre fatal.“ Diese dürften jedoch durch die Abschottungspolitik der Europäischen Union erst recht entstehen.
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