/ Wenn Worte schlimmer als Schläge sind
Es ist die kleine Stichelei, mit der alles beginnt. Psychische Gewalt ist eine Paarproblematik, die noch allzu unterschätzt ist. Empörung entsteht erst, wenn physische Gewalt ins Spiel kommt. Dafür gibt es dann auch Anlaufstellen. Die 22-jährige Jurastudentin Sandy Santos ist gerade dabei, eine für psychische Gewalt zu gründen. Ein Gespräch mit ihr über das große Schweigen und mögliche Auswege aus der Situation.
Von Melody Hansen
Tageblatt: Wie äußert sich psychische Gewalt?
Sandy Santos: Es fängt mit kleinen Sticheleien an. Diese münden dann in Isolation und Schuldzuweisungen. Der Partner lässt sein Gegenüber glauben, dass er nichts anderes verdient. Irgendwann ist dieser überzeugt davon und gibt sich selbst die Schuld für alles. Spätestens dann geht es um Ausgrenzung. Jeder, der helfen will, ist per se „böse“.
Ein Beispiel?
Es gibt viele Fälle von sogenannten manipulativen Narzissten. Sie sind am Anfang der Beziehung super freundlich und sympathisch und alles scheint perfekt. Doch dann fangen sie an mit Kommentaren wie: „Deine Haare gefallen mir nicht, du könntest ein bisschen abnehmen usw.“ Die Kritiken werden schlimmer. Der Narzisst überträgt seine eigenen Schwächen und Komplexe auf seinen Partner, um sich selbst besser zu fühlen. Irgendwann beginnt er, seinen Partner vor anderen Menschen zu kritisieren und versucht ihn von diesen abzugrenzen. Es endet mit der Isolation.
Wie verbreitet ist das Problem?
In Frankreich ist eine von zehn Frauen von psychischer Gewalt betroffen, weltweit ist es jede dritte. Dass es in Luxemburg keine Statistik gibt, zeigt, dass die Problematik hier unter den Teppich gekehrt wird. Dabei kann psychische Gewalt schlimme Folgen haben wie Depressionen, Panikattacken oder Burn-out. Sie kann sogar zum Suizid führen.
Wie sollte man damit umgehen, wenn das im Umfeld passiert?
Was man auf keinen Fall sagen sollte, ist: „Wieso beendest du die Beziehung dann nicht einfach?“ Das ist wirklich das Schlimmste, was man in der Situation sagen kann. Die Partner tun nämlich alles dafür, dass man eben nicht mehr aus der Beziehung herauskommt. Sie lassen einen glauben, dass man nichts Besseres verdient hat und sowieso keinen anderen finden wird. Stattdessen sollte man Gespräche anbieten.
Mündet psychische Gewalt oft in physische?
Es kann in der Tat zu kleinen, eher unauffälligen Akten der physischen Gewalt kommen. Man wird gestoßen oder an eine Wand gedrückt. Sexuelle Gewalt zählt auch dazu. Darüber wird nicht geredet. Frauen denken immer noch, weil sie in einer Beziehung sind, müssen sie auch mit ihrem Mann schlafen. Als wäre das ihre Pflicht. Hier sind wir schon in der Grauzone zur Vergewaltigung.
Wieso das Schweigen der Betroffenen?
Das Hauptproblem ist Scham. Hinzu kommt, dass sie nicht wissen, mit wem sie reden sollen. Nicht jeder glaubt ihnen. Es gab ja diese ganze Diskussion rund um #MeToo. Es wurde sehr viel über „libération de la parole“ geredet. Das ist wieder abgeebbt. Luxemburg ist klein. Betroffene haben Angst, dass ihnen etwas passiert, wenn sie darüber reden. Meistens ist es auch so, dass derjenige, der die psychische Gewalt ausübt, nach außen hin sehr lieb und nett scheint, zu Hause aber das genaue Gegenteil ist. Die Angst, dass es schlimmer wird, wenn herauskommt, dass sie darüber reden, ist groß.
Was wollen Sie mit Ihrer Initiative bewirken?
Ich will eine Atmosphäre schaffen, die es Betroffenen erleichtert, darüber zu reden. Einen Raum – egal ob per Mail oder persönlich, einzeln oder in Gruppen –, der den Austausch ermöglicht.
Was genau ist Ihre Rolle dabei?
Ich bin zuerst einmal Zuhörerin. Es ist meiner Meinung nach wichtig, darüber zu reden. Es hilft, wenn jemand zuhört, ohne zu urteilen. Das ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Meistens fühlen sich die Frauen auch wohler dabei, mit jemandem zu reden, der das Gleiche durchlebt hat und es herausgeschafft hat. Das gibt ihnen Hoffnung.
Wollen Sie Betroffenen aus der Situation heraushelfen?
Ich will für sie da sein, egal welche Entscheidung sie treffen. Ob sie mit der Person zusammenbleiben wollen oder sich dazu entscheiden, die Beziehung zu beenden. Diese Entscheidung liegt ganz bei ihnen. Manchmal ist auch die Vermittlung an einen Psychologen oder eine „assistante sociale“ die Lösung.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das „Fly Project“ ins Leben zu rufen?
Ich studiere Jura und habe mich schon immer für Frauenrechte interessiert und eingesetzt. Es ist seit langer Zeit mein Traum, etwas in diese Richtung zu bewirken. Dazu kommt, dass ich selbst in einer für mich toxischen Beziehung war. Als ich es geschafft hatte, dort rauszukommen, habe ich mir geschworen, etwas auf die Beine zu stellen. Außerdem gibt es außer „Femmes en détresse“ keine ähnliche Organisation in Luxemburg. Sie kümmern sich aber eher um Frauen, die mit physischer Gewalt in einer Beziehung konfrontiert sind.
Haben Sie das Projekt alleine auf die Beine gestellt?
Ja. 2018 habe ich angefangen, meine Idee umzusetzen. Derzeit handelt es sich noch um ein Projekt. Es ist jedoch alles auf dem Instanzenweg zur offiziell anerkannten Vereinigung. Mit den ganzen Papieren wird das wohl noch bis September dauern. Ich erhalte Unterstützung von der Uni Luxemburg. Schlussendlich wird es eine Studentenvereinigung, an der aber jeder teilnehmen kann. Die Uni stellt mir die „Student-Lounge“ auf Belval zur Verfügung, wo die Gruppentreffen stattfinden werden. Sie helfen mir mit sämtlichen Verwaltungsaufgaben. Wenn das Projekt zur Vereinigung geworden ist, werde ich auch finanzielle Unterstützung von ihnen erhalten. Derzeit zahle ich alles aus meiner Tasche.
Neben dem anspruchsvollen Jurastudium nehmen Sie sich noch Zeit, sich einzusetzen …
Es fühlt sich richtig an, das zu tun.
Sandy Santos ist 22 Jahre alt und studiert Jura an der Uni Luxemburg.
Die erste Veranstaltung ihres „The Fly Project“ findet am Freitag, 20. April, um 18 Uhr in der Student-Lounge im Uni-Gebäude auf Belval statt. Die Gruppen-Sitzungen sollen zwei Mal im Monat stattfinden. Wem es schwerfällt, vor anderen zu reden, kann Sandy Santos aber auch per Mail kontaktieren unter theflyproject2018@hotmail.com.
- Erste Einblicke ins Escher „Bâtiment IV“, wo Cueva an seinem bisher größten Projekt mit 106 Künstlern arbeitet - 24. Oktober 2020.
- Esch will Vorreiter in Sachen Sport werden - 24. Oktober 2020.
- Nach Transition zurück auf der Bühne: Luxemburger überzeugt zum zweiten Mal bei „The Voice of Germany“ - 21. Oktober 2020.
Eine sehr gute Initiative – wünsche viel Erfolg!