/ Tod in Cannes
Von Anne Schaaf, zz. in Cannes
Das Tageblatt hat nun den ersten Tag auf den Filmfestspielen in Cannes verbracht und wurde Zeuge eines Kriegs der Welten. Ohne Blut, aber dafür mit reichlich Getöse.
Im Bus zum allseits bekannten Palais, also jenem Ort, an dem man derzeit weltweit mit Abstand die meiste Aufmerksamkeit bekommt, wenn man die Treppe hoch- oder wahlweise auch runterfällt, fühle ich mich kurz so, als säße Gustav von Aschenbach neben mir. Die Zahl an Panama-Hut tragenden älteren Männern schießt scheinbar während des Filmfestivals exponentiell in die Höhe. Nur dass der Herr nebenan nichts von Viscontis Hauptfigur in der Buchverfilmung hat, sondern so wirkt, als habe er sich ein klein wenig zu oft fleischlichen Gelüsten (eher jungen Lämmern als jungen Knaben) hingegeben. Er sprach so laut, dass die gesamte Belegschaft im Bus seiner Predigt ausgesetzt war. Wäre er nicht so bleich gewesen, so hätte Wim Wenders seinen Dokumentarfilm „Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“, der in Cannes „hors compétition“ läuft, sicherlich prompt neu gedreht. Mit ihm in der Hauptrolle.
Auch der letzten schwerhörigen Oma in der allerletzten Reihe sollte nun klar sein, dass genau er und vor allem er Teil des Festivals ist. Dabei spricht er, wie so viele Menschen im Wanst sowie dem Speckgürtel um das Festival herum herzlich wenig über Filme. In allerbreitgetretenstem britischen Englisch macht er sich über einen Freund lustig, der wohl noch im Hotel ist (es ist 11.30 Uhr), da er gestern darauf bestanden hat, noch ein bisschen „mit Freunden zu reden“. „That actually means that he spent 250 euro on drinks and that he’s still in bed right now.“ Dann fährt er damit fort, dass er hoffe, dass dieser „Freund“ sich bei ihm revanchiere, er habe ihm schließlich viel ermöglicht … Obwohl es nicht allzu schnell gelingt, versuche ich auf Durchzug zu schalten und einfach aus dem Fenster zu schauen …
Sommer, Sonne, Sonnenschein. Es wirkt alles wie geleckt. Fast so, als wäre jemand mal gut mit dem Kärcher durchgegangen und hätte alles grundgereinigt. Soweit bisher zu vernehmen ist, ist die schicke 70.000-Einwohner-Stadt zwar nicht wie beispielsweise beim G20-Gipfel 2011 derart hermetisch abgesichert, dass wirklich nur gemeldete Bewohner die Sicherheitszone betreten dürfen, und doch kommt das lediglich durch die Haute Couture bedingte bunte Treiben nicht gerade inklusiv daher. Es hat etwas von Karneval. Mit genauso viel Alkohol, aber teureren Kostümen. Sogar Journalisten (samt Kameramännern oder -frauen), welche nicht einmal auf, sondern nur am Rand des roten Teppichs stehen wollen, müssen Anzüge tragen, da ihnen sonst der Zugang verwehrt wird. Die Tageblatt-Mitarbeiter, die für Sie vor Ort sind, haben zwar nichts gegen Hosenanzüge, entscheiden jedoch gerne selbst, wann sie sie tragen. Deswegen bleiben an dieser Stelle wohl derartige Fotos aus.
Während dieser Artikel im Pressezentrum des Filmfestivals entsteht, vollzieht sich wenige Meter entfernt eine Art Happening. Denn bereits zwei Stunden bevor die nächsten Starlets die Treppen des Palais besteigen werden, stehen mehr als hundert Menschen auf einer doch etwas knapp bemessenen Fläche Schlange (Luftaufnahmen von Cannes kämen ohne Zweifel einem Korb voller Schlangen gleich, denn diese ist bei Weitem nicht die einzige). Ziel ist es, auf einem kleinen, sehr engen Streifen Beton direkt gegenüber den Stufen Platz zu nehmen, um sich ein Schauspiel jenseits der Leinwand anzusehen, das lange dauert, jedoch wenig Inhalt bietet. Besinnt man sich für einen kurzen Moment auf das, was da gerade passiert, liegen Lachen und Weinen nicht weit auseinander. Denn hier gucken tatsächlich Menschen Menschen beim Treppensteigen zu. Viele haben sogar ihre Leitern und Stühle mit Ketten an der Absperrung befestigt, da diese schlauchartige Zone zwischendurch immer wieder verlassen werden muss. Wenn dann der nächste Sternenschauer ansteht, wird wieder ein großes Gruppenkuscheln veranstaltet, bis der Zugang erneut geöffnet wird. Nichts für Klaustrophobiker also und bei den Temperaturen wohl auch tendenziell nichts für Menschen mit ausgeprägtem Geruchssinn. Ich erwische mich dabei, mich zu fragen, ob Tod durch Ersticken in Parfümwolken nicht mal ein bisschen Abwechslung in die Todesanzeigenbranche brächte, aber da atme ich tief durch und ziehe weiter.
Derweil die Schaulustigen an dieser Stelle wenigstens zu einer homogenen Masse verschmelzen, beschwert man sich anderenorts über das Kastensystem, das durch das Festival von Cannes angeblich bestärkt werde. Vorm Palais werden Flyer ausgehändigt, auf denen unter dem Hashtag #TheColorOfCannes dazu aufgerufen wird, die Presse nicht mehr in mindestens fünf Farbstufen zu unterteilen, wie es aktuell der Fall ist. Die damit einhergehenden Zugangsbeschränkungen würden vielen Medien die tagesaktuelle Arbeit erschweren, während man einigen Vorteile verschaffe. Für die einen ist das fesche Plastikglas mit Sekt wohl halb leer, während es für andere halb voll ist.
Obwohl die mit dem Protest zusammenhängende Petition noch nicht allzu viele Unterschriften enthält, reiht sich der hier geäußerte Missmut aber in bereits bestehende Kritik vonseiten vieler Journalisten ein.Vor dem Festival hatte der Leiter der Filmfestspiele, Thierry Frémaux, angekündigt, die Vorpremieren für die Presse zu streichen, was den internationalen Kritikerverband Friprescri („Fédération internationale de la presse cinématographique“) auf den Plan rief. Laut der Deutschen Presse-Agentu r hatte Frémaux damit eigentlich beabsichtigt, gegen die Banalisierung des Festivals vorzugehen und Galapremieren neuen Glanz und Spannung zu verleihen. Kurzum, es soll wieder (oder noch) exklusiver werden.
Ein Sprichwort besagt, dass nur derjenige originell sein kann, dem keine Banalität fremd ist, und genau dies scheint hier keine Rolle zu spielen oder gar nicht erst verstanden zu werden. Es prallen Welten aufeinander, die nicht zusammengehören, aber sich gegenseitig ermöglichen. Während Heerscharen an „Otto Normalverbrauchern“ den besten Fummel von C&A aus dem Schrank kramen und im Sakko draußen vor der Tür um eine Eintrittskarte betteln, nuckeln drinnen Menschen an ihrem Cocktail, die sich Jeans im „Used Look“ für Hunderte von Euro leisten können. Erstere ermöglichen Letzteren das Leben, das sie führen, weil sie auf der Suche nach Träumen die Kinosäle stürmen. Im Gegenzug spielen diese ihnen etwas vor, das gleich beide Seiten von der Realität abhält.
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sehr gut beobachtet und berichtet ich bin mit ihnen 100% einverstanden