/ Zwei brutale Sinnsuchen
In der soziologisch durchaus berechtigten und wichtigen Statistikdebatte um die immer noch zu zaghafte Anwesenheit von Frauen in der Filmindustrie, die auch auf dieser Auflage in Cannes aufkam, übergeht man manchmal die Filme. Denn aktuelle Gegebenheiten und kollektive Traumata werden immer auch in Fiktionen verarbeitet. Gleich mehrere Weinsteinmonster findet man in den zwei interessanten Wettbewerbbeiträgen vom Mittwoch – und in beiden Filmen wird die Unterrepräsentierung der Frauen durch ein konkretes Verschwinden der weiblichen Figuren kommentiert.
Von Jeff Schinker, zur Zeit in Cannes
„UNDER THE SILVER LAKE“
Semiotiker und Literaturwissenschaftler Roland Barthes behauptete mal, Zeichen wären überall. Weshalb die ganze Welt eine riesige, komplexe und zusammenhanglose Fläche ist, die von Bedeutungen nur so schimmert. Würde Barthes noch leben, würde er feststellen, dass dieser Zeichenwust heute, u.a. dank Internet, zum Zeichenoverkill geworden ist.
Gefangen in einer Welt, die bedeutungslos geworden ist – laut Jean-François Lyotard wurden die großen teleologischen Narrative einer menschlichen Sinnsuche allesamt im 20. Jahrhundert abgebrochen –, sprühen wir nur so von der Begierde, uns von Zeichen zu umgeben, um unsere Identität mit Sinn zu füllen. Diese Gegebenheit in eine schräge, wirklich beklemmende, bizarre Fiktion zu spinnen, ist sowohl der Hauptverdienst als auch der mögliche wunde Punkt des neuen Films von David Robert Mitchell, der nach seinem von Kritikern viel gelobten Horrorstreifen „It Follows“ nun „Under the Silver Lake“ in Cannes vorstellt.
Neues aus der (Alb)Traumschmiede
Sam (Andrew Garfield) ist Single, von Frauen besessen und hat keinen Plan, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er arbeitet nicht, Rente zahlen ist auch nicht ganz sein Ding. Zu Beginn ruft ihn seine Mutter an und fragt nach seinem Job. Sam ist gerade dabei, die ältere Hippienachbarin, die ständig halbnackt auf der gegenüberliegenden Terrasse nach ihrem Papagei schaut, mit altmodischem Fernglas zu begutachten, als die Aufmerksamkeit des lüsternen Voyeurs auf die in der ersten Szene des Films bereits erblickte, jetzt unten im Pool schwimmende Blondine aus der Nachbarschaft gelenkt wird. Im gleichen Moment klingelt es an der Tür, seine momentane Affäre kommt vorbei, es wird im Doggie-Marathon die Libido beruhigt und gleichzeitig das Kurt-Cobain-Poster an der Mauer und das Fernsehprogramm durchdiskutiert.
Sam sucht am Tag darauf die Nachbarin auf, verliebt sich, es kommt zu einem zarten Kuss, die Mitbewohnerinnen tauchen in der Gegenwart eines zottigen, bärtigen Piratenverschnitts auf, weswegen das romantische Stelldichein der beiden auf den Folgetag verlegt wird. Am Tag darauf ist Sams Flamme aber nicht nur spurlos verschwunden, ihre Wohnung wurde über Nacht säuberlich ausgeräumt.
Verloren im Wald der Zeichen
So beginnt Sams Schicksal als Hobby-Marlowe in einer Welt, in der er auf erfolglose, zu Call-Girls umfunktionierten Hollywood-Schauspielerinnen, einen Hundemörder, den König der Obdachlosen und einen Illuminierten, der den Sinn seines Lebens auf der Packung von Frühstücksflocken sucht, stößt. Wem das jetzt zu abstrus ist: All dies ist nur ein Bruchteil der ganzen Story.
Sam ist der unfreiwillige Ermittler eines Kriminalfans, der knäuelförmig, wirr und surreal ist – und in dem jedes Zeichen in Verbindung mit mysteriösen Sinnebenen zu stehen scheint. Wie ein Freund von Sam irgendwann bemerkt: Wir sind mit Videospielen aufgewachsen, sind gewohnt, überall nach versteckten Boni und Easter Eggs zu suchen. Vielleicht entwickelt der Film, der gegen Ende, wie kürzlich bei „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ oder „La prière“ eine neue Form der Spiritualität als Heilmittel der Sinnleere postuliert, so etwas wie eine Theologie des Videospiels, eine Weltanschauung nach Super Marios Geboten. „Under the Silver Lake“ ist ein etwas monströses Kind der cineastischen und literarischen Postmoderne: Wie in Tarantinos besten Momenten gibt’s hier einen Referenzreigen, der genau so unüberschaubar wie die Windungen der abstrusen Handlung ist. Wie bei Thomas Pynchons – der eigentlich Tarantinos intellektueller Cousin sein könnte – meistgelesenem Roman „The Crying of Lot 49“ weiß man nicht, ob die Hauptfigur an Paranoia leidet, ob jemand Sam manipuliert, um ihn glauben zu lassen, er wäre paranoid oder ob Sams Sinnsuche einen möglichen Weg der Erkenntnis darstellt. Neu ist hier aber der Kontext: Das Verschwinden der weiblichen Hauptfigur sowie die Reduzierung der Frau auf ein Lustobjekt ist klar und deutlich – der Film spielt in LA – ein Kommentar zu den rezenten Entwicklungen und Skandalen der (Alb)Traumschmiede.
Dass der Plot des Films so wenig Sinn ergibt wie eine Rede des amerikanischen Präsidenten, ist eigentlich toll. Dass viele Handlungsstränge und gar Figuren lose herumbaumeln, gar wie ein Kabelwirrwarr aus einem verstaubten Effektpult herausragen und vergessen werden, ist ein Überbleibsel einer Postmoderne, die eben diese Sinnstiftung, an der sich die Figuren im Film immer wieder reiben, immer schon ins Absurde trieb. Und dass hier Neo-Noir mit Horror mit Illuminati-Verschwörungstheorien und surrealen Sci-Fi-Bildern aus dem Hirn eines Richard Kelly („Donnie Darko“) verbunden werden, ist zwar gewagt, geht aber eigentlich auf. Was mehr stört, ist die Überlänge und die mit Momenten etwas belehrende Überdeutlichkeit. So ist der Streifen wahlweise ein „Big Lebowski“-Verschnitt mit weniger Humor, „Ready Player One“ mit mehr Tiefgang oder ein Metakommentar einer Epoche, in der die Erkenntnis der Sinnlosigkeit unserer Existenzen die vielleicht schlimmste aller menschlichen Errungenschaften ist.
„Under the Silver Lake“
Der Neo-Noir-Thriller von David Robert Mitchell erhält von unserem Redakteur Jeff Schinker 3,5 von 5 goldenen Palmen
„BURNING“
Die Story von Lee Chang-Dongs Murakami-Adaptierung „Burning“ liest sich wie eine Fabel vom bösen Wolf, die man ins zeitgenössische Südkorea transponiert hätte. Hauptfigur Jongsu weiß, genau wie Garfields Sam, nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er möchte Schriftsteller werden, schreibt aber fast den ganzen Film keine Zeile, weil die „Welt ein Mysterium für [ihn] bleibt“.
Durch Zufall begegnet er Haemi, einer früheren Dorfnachbarin, die ihn recht schnell verführt, indem sie ihn bittet, während ihrer kommenden Abwesenheit auf ihre Katze aufzupassen, die sich allerdings niemals vor einem Fremden zeigt – Jongsu fragt spaßeshalber, ob es dieses Tier wirklich gibt. Die beiden schlafen miteinander, Haemi bricht nach Afrika auf, um dort einen Volksstamm, der zwischen zwei Arten von Hunger unterscheidet, aufzusuchen. Für diesen Stamm entspricht der kleine Hunger dem biologischen Appetit, der große Hunger allerdings der unbändigen Lebenslust, der Sinnessuche. Als Jongsu Haemi Wochen später am Flughafen abholen soll, erwartet ihn eine unangenehme Überraschung: Mit im Schlepptau ist Ben, ein netter, charismatischer Typ, den sie, als sie am Flughafen feststeckte, kennenlernte. Hinter der Fassade des neureichen, enigmatischen Typen versteckt sich aber nicht nur ein Meister der Rhetorik und der Verführung – nach und nach lugt der große, böse Wolf hinter der bröckelnden Fassade des begeisterten Fremden.
Wo ist Haemi?
Die unbeschwerte, verspielte, verführerische Haemi begeistert sich für Ben, der die junge Frau als Aushängeschild bei seinen Freunden zu nutzen scheint. Der stille Jongsu begleitet die beiden, bis er eines Tages Haemi nicht mehr erreichen kann. Kurz zuvor hatte Ben ihm erklärt, dass er alle zwei Monate seinem Lieblingshobby nachgehen würde – er liebe es, nutzlose, vereinsamte Treibhäuser zu verbrennen. Jongsu wird ab dann wie Garfields Sam zum Ermittler, sucht nach der verschollenen Haemi und kontrolliert täglich die Treibhäuser in seiner Umgebung. Jongsu bezeichnet Ben anfänglich als koreanischen Gatsby, in ihm steckt aber mehr Bret Easton Ellis als Fitzgerald.
Wäre Jongsu ein typischer Held, wäre das Narrativ veraltet – wie im Mario-Narrativ, um den internen Referenzkreis zu „Under the Silver Lake“ zu schließen, wo stets die Prinzessin gerettet werden muss. Hier aber ist Jongsu das schwächste Glied – ihm fehlt sowohl die Unbeschwertheit von Haemi als auch das Gerissene von Ben. Jongsu ist wie der Schachspieler, der die Regeln nicht kennt, wie die Figur, der die Gewissheit ihrer Position auf dem Brett fehlt. Machtstrukturen durch Reichtum und polierte Rhetorik werden in „Burning“ nie plakativ und doch emotional dargestellt, die Verlagerung auf eine männliche Figur fügt hier sogar noch zur Subtilität der Domination hinzu, da im perversen Beziehungsdreieck Jongsu letztlich der Ausgebrannte ist.
Überzeugend ist „Burning“ auch auf einem formalen Plan. Die Poesie von Murakamis Texten liest sich hier in einer starken Bildersprache, die niemals überästhetisiert wird – und die sich in einer Reihe von starken Sequenzen verdichtet, wo die meist prosaischen, aber letztlich schön durchdachten Sequenzen auch von der tollen schauspielerischen Leistung der drei Darsteller getragen werden.
„Burning“
Auch die südkoreanische Literaturverfilmung von Lee Chang-Dong bewertet Jeff Schinker mit 3,5 von 5 goldenen Palmen.
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