Kap Verde / 100. Geburtstag von Amílcar Cabral: Warum der Freiheitskämpfer noch immer aktuell ist
Ein Jahr vor den Jubiläumsfeiern zur Unabhängigkeit Kap Verdes wird des Freiheitskämpfers Amílcar Cabral gedacht. Er wurde vor hundert Jahren geboren. Sein Denken und Schaffen sind auf dem Inselstaat noch heute lebendig.
Die Tür zur Zeitreise steht offen. Aus dem Bombu Mininu dringt Jazz der 60er Jahre und strömt der Duft von Räucherkerzen. An den Wänden und an der Decke sind Zitate aus Büchern zu lesen und hängen Fotos und Plakate kultureller und politischer Ikonen. Der mit Büchern und Schallplatten vollgestellte Laden entpuppt sich als Kleinod, als Oase der Ruhe in der belebten Rua São João von Mindelo. Abends ist er ein Treffpunkt von Dichtern, Künstlern und Musikern.
Die Hauptstadt von São Vicente, einer der nördlichen Kapverdischen Inseln, ist ein pulsierendes Städtchen und zugleich Zentrum der kapverdischen Kultur und vor allem der Musik. Sie ist Heimat der großen Sängerin Cesaria Évora und zumindest zum Teil auch die von Amílcar Cabral. In Mindelo ging er zur Schule, hier machte er Abitur, arbeitete bei einem Radiosender, verfasste Gedichte und seine ersten politischen Schriften.
Der kapverdische Befreiungsheld ist heute noch ähnlich allgegenwärtig wie Évora. Als Graffito auf Häuserwänden oder als Motiv auf T-Shirts. So auch im Bombu Minunu, das von Miriam Simas geführt wird. Während diese uns Tee serviert, blättere ich in einem Buch über den linken Intellektuellen und Politiker. „Die Ideen von Cabral sind noch immer aktuell“, sagt Miriam Simas.
Der Dichter, Intellektuelle und Unabhängigkeitskämpfer wurde am 12. September vor hundert Jahren in Guinea-Bissau geboren und fiel 1973 im Alter von 48 Jahren einem Attentat zum Opfer, zwei Jahre vor der Unabhängigkeit des Landes. Der Sohn kapverdischer Eltern kam in Guinea-Bissau zur Welt, wo sein Vater als Lehrer arbeitete. Als er etwa acht Jahre alt war, kehrte die Familie auf Kap Verde zurück – nach Mindelo. Später zog sie in die Hauptstadt Praia auf der Insel Santiago im Süden des Archipels.
„Reafrikanisierung des Verstandes“
Cabral erhielt ein Stipendium, um in Lissabon Landwirtschaft zu studieren. Früh trat er für eine „Reafrikanisierung des Verstandes“ ein, wie er in „Die Revolution der Verdammten“ schrieb. In der portugiesischen Hauptstadt, damals noch während der Salazar-Diktatur, hatten sich unter afrikanischen Studenten politische Zirkel gebildet. Cabral traf unter anderem den Arzt und Dichter Agostinho Neto, den späteren Anführer der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA und ersten Staatspräsidenten seines Landes, sowie Eduardo Mondlane, den Präsidenten der Befreiungsbewegung Frelimo aus Mosambik.
Cabral ging als Landwirtschaftsingenieur 1952 nach Guinea-Bissau, um bei der kolonialen Agrar- und Forstverwaltung zu arbeiten. Durch seine politischen Aktivitäten geriet er mit der Kolonialverwaltung in Konflikt. Als dieser sich zuspitzte, musste er nach Angola fliehen. Zusammen mit seinem Bruder Luis Cabral sowie Aristides Pereira, dem späteren ersten Staatspräsidenten Kap Verdes, gründete er die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde (PAIGC). In Ghana errichtete Cabral mit Erlaubnis des damaligen ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah Ausbildungslager für den Unabhängigkeitskampf.
Nachdem die portugiesischen Kolonialtruppen einen Streik der Hafenarbeiter in Guinea-Bissau niedergeschlagen hatten, begann die PAIGC den bewaffneten Aufstand, der zum Befreiungskrieg (1963-1974) wurde. Cabral verfocht das Bestreben nach Unabhängigkeit auf internationaler Ebene vor den Vereinten Nationen. Dazu merkt der Philosoph Tsenay Serequeberhan von der Morgan State University in Baltimore an: „Wie Amílcar Cabral bereits 1962 unmissverständlich deutlich gemacht hat, muss man sich verdeutlichen, dass die Praxis des afrikanischen antikolonialen Kampfes, die durch die UN-Resolution zur Entkolonialisierung bestätigt wurde, Teil des international anerkannten Vermächtnisses der postkolonialen Menschheit ist.“*
Als Intellektueller fand er nicht zuletzt Anerkennung bei der Sozialistischen Internationale. Nachdem bereits die portugiesische Armee und Geheimpolizei PIDE im November 1970 versucht hatten, ihn bei einem Überfall auf Conakry zu töten, aber zunehmend in die Defensive gerieten, putschte am 20. Januar 1973 ein Teil der PAIGC-Armee gegen die Kapverdier. Cabral wurde vor seinem Haus von einem Marine-Offizier erschossen. Die genauen Hintergründe seiner Ermordung sind bis heute nicht geklärt.
Die verspätete Unabhängigkeit
Guinea-Bissaus Unabhängigkeit wurde im September 1973 ausgerufen, im Jahr darauf von Portugal anerkannt. Kap Verde wurde erst 1975 ein selbstständiger Staat. Somit erlangten die portugiesischen Kolonien später die Unabhängigkeit als die meisten afrikanischen Staaten, weil sie lange Zeit als ein Symbol der vermeintlichen „Großmachtstellung“ Portugals unter der Salazar-Diktatur dienten – doch mehr und mehr zur Belastung für das „Mutterland“ wurden.
Ob Cabral Marxist war, darüber wird bis heute gestritten. Der Schweizer Jurist und kapverdische Honorarkonsul Hans-Ulrich Stauffer, lange aktiv im schweizerischen Afrika-Solidaritätskomitee, erinnert in dem 2023 von ihm publizierten Band mit Cabrals Schriften daran, wie der Unabhängigkeitsheld 1966 auf einer internationalen Solidaritätskonferenz in Kuba gefragt wurde, was er von der Vision einer panafrikanischen Revolution von Ernesto „Che“ Guevara halte. Diese sei schön und berückend, aber zuweilen halte sich die Wirklichkeit nicht an die Theorie, antwortete Cabral. In Bezug auf Afrika sei die marxistische Klassenanalyse nicht brauchbar. Eine Bourgeoisie gebe es ebenso wenig wie ein Industrieproletariat, und die Bauern verspürten kaum ein revolutionäres Bedürfnis. Mit seiner Rede stahl er nicht nur dem Gastgeber Fidel Castro die Schau, sondern wurde als einer der führenden Theoretiker und Praktiker der nationalen Befreiung wahrgenommen.
Cabral erkannte früh den Stellenwert der Kultur im politischen Kampf. Wie Frantz Fanon betrachtete er die soziale und kulturelle Identität nicht als „unveränderliche Eigenschaft“, sondern als wandelbar – nicht als statisch, sondern als etwas, das sich immer wieder neu definiert. Sowohl Cabral als auch Fanon verstanden die einheimische Kultur der Kolonisierten als eine Basis des Widerstandes. Allerdings ging es ihnen nicht um eine „afrikanische Kultur“ oder „Schwarze Kultur“, sondern um die „Heterogenität des kulturellen Feldes, das von Kämpfen und Geschichte durchdrungen, vom widersprüchlichen Handeln sozialer Klassen durchzogen und territorial konfiguriert ist“, zitiert der Politologe Frédéric Thomas Cabral.
Identifikation ohne Ideologie
Die Befreiungsbewegung solle das Gefühl der „Würde“ als ein Konzept, das sich einer festen Identität entzog, wiederherstellen, so Cabral. Der Intellektuelle, aus dem auch ein militärischer Führer wurde, habe den Befreiungskampf zudem als Kampf gegen vorherrschende soziale Strukturen gesehen, so Schauffer, etwa gegen tribalistische Seilschaften und Polygamie. Dabei unterschätzte er die sozialen und kulturellen Spannungen, was letztendlich tödliche Folgen hatte. Im Nachhinein wurde die Legende eines portugiesischen Attentats gestrickt.
Während Guinea-Bissau heute ein „gescheiterter Staat“ sei, so Schauffer, ist Kap Verde hingegen eine stabile Demokratie, deren Präsident José-Maria Neves vergangenes Jahr in Luxemburg zu Besuch war. „Wir haben in Cabral die besten Möglichkeiten Fragen zu stellen, wie wir mit den heutigen Problemen umgehen können“, sagte Neves im Interview. Cabral war der Überzeugung, dass es eine spezifisch kapverdische Identität gibt. Diesen Ansatz vertiefte er in seinen 1952 verfassten „Anmerkungen zu kapverdischer Dichtung“.
Cabral sei ein „widerstrebender Nationalist“ gewesen, erklärt der angolanische Schriftsteller António Tomás in seiner 2007 erschienenen Biografie „Amílcar Cabral: O Fazedo de Utopias“. Für ihn war Cabral ein Pragmatiker, der versucht habe, sich „ohne Ideologie zu identifizieren“ in einer Welt, die „komplex war und eine gewisse Flexibilität erforderte“. Tomás zitiert die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis: „Persönlichkeiten wie Amílcar Cabral haben uns geholfen, uns die Horizonte der Freiheit viel umfassender vorzustellen, als wir es durch das, was wir heute den ‚Diskurs über Bürgerrechte‘ nennen, getan haben.“
*) Aus: Afrikanische politische Philosophie. Berlin 2015.
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