Deutsche Einheit / 35 Jahre Mauerfall – und alle Wunden offen
75 Jahre Bundesrepublik Deutschland, das sind 40 Jahre deutsche Teilung und ein 35 Jahre langer, zäher Prozess der Wiedervereinigung. Der Autor erinnert sich an den Mauerfall und an seine Reise in die DDR, als es diese noch gab, der deutsche Osten sich aber bereits in einer Phase des Übergangs befand. Zweiter Teil: Frust, Wut und Widerstand.
Nach einem Kurztrip nach Meißen in die Porzellan-Manufaktur führte uns unsere Reise weiter in die Lausitz. Das Gebiet gehört heute zum einen Teil zum Bundesland Brandenburg, zum anderen zum Freistaat Sachsen. Die Einwohner von Hoyerswerda entschieden sich 1990 in einem Referendum für die Zugehörigkeit zu Sachsen. Die Stadt im Landkreis Bautzen zwischen Dresden und Cottbus liegt in jenem Gebiet, wo die slawische Minderheit der Sorben zu Hause ist. Grit Lemke hat über sie im vergangenen Jahr einen Kinodokumentarfilm gedreht. In „Bei uns heißt sie Hanka“ begibt sich die Autorin und Regisseurin auf die Suche nach ihren eigenen sorbischen Wurzeln. Sie wuchs in Hoyerswerda auf.
Die einstige DDR-Modellstadt, geprägt von Plattenbauten, sollte im Jahr nach unserer Reise durch rassistische Ausschreitungen bekannt werden, als Anwohner und zugereiste Neonazis Unterkünfte von Vertragsarbeitern aus Mosambik und Vietnam angriffen. Die Krawalle dauerten tagelang und verliefen unter dem Beifall der Bevölkerung. Einige Plattenbauten wurden „zurückgebaut“. In dem Buch „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“ (2021) hat Grit Lemke eine „oral history“ über ihre Heimatstadt geschrieben. Das Buch handelt sowohl vom Aufbruch als auch von der politischen Radikalisierung in der Stadt. Seit der Wende hat sich die Einwohnerzahl von Hoyerswerda von 65.000 in DDR-Zeiten fast halbiert. Vor allem junge Leute zogen weg.
Noch heute tickt in der Stadt im Landkreis Bautzen der Zeitgeist rechts. Die Journalistin Simone Rafael, die sich seit vielen Jahren gegen rechte Gewalt engagiert, nannte Hoyerswerda einmal eine „latent beklemmende Gegend“. Diese Atmosphäre empfanden wir schon 1990, bevor die Arbeitslosenquote in die Höhe schoss und auch bevor der rechte Mob tobte. Zu jener Zeit begannen die Neonazis unter den Jugendlichen die Hegemonie zu besitzen und rechte Skinheads das Straßenbild zu prägen. Später sprach man von den „Baseballschlägerjahren“ in den sogenannten neuen Bundesländern. Mit der Zeit habe sich die Grundstimmung gewandelt, stellte Rafael fest, was vor allem zivilgesellschaftlichen Initiativen und einzelnen engagierten Bürgern zu verdanken sei. Manche Neonazis gingen in den Untergrund. Aus der Welt geschafft werden konnten sie nicht. Bei der Landtagswahl am 1. September erzielte die AfD 33,7 Prozent.
Die Region unweit der polnischen Grenze war mehr als zwei Jahrhunderte lang vom Braunkohleabbau geprägt, dessen Geschichte Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte. Der Tagebau setzte sich in den 1890er Jahren durch. In Erinnerung ist mir das Bild von riesigen Abraum-Kettenbaggern mit mehreren Schaufeln geblieben, die meinen Vater und mich ins Staunen brachten. Wie riesige Insekten in einer von Ödnis gezeichneten Landschaft beherrschten sie die Gebiete Nochten, Reichwalde und Welzow-Süd und belieferten die Kraftwerke Jänschwalde, Boxberg und Schwarze Pumpe.
Die wirtschaftliche Situation der Region, die an den Braunkohleabbau gekoppelt war, verschlechterte sich nach 1989 beträchtlich. Durch die Schließung der Tagebaue, Kokereien und Braunkohlefabriken verloren mehr als 15.000 Menschen ihre Arbeit. Der Niedergang ist deutlich sichtbar an Orten wie dem südbrandenburgischen Lauchhammer, wo vor 60 Jahren 64.000 Einwohner lebten und heute nur noch halb so viele. Die Kleinstadt hat eine der höchsten Arbeitslosenraten der Region. Durch die Ansiedlung neuer Unternehmen schaffte sie jedoch eine Kehrtwende.
Heute wird oft vergessen, dass die DDR gegen Ende der 80er Jahre am Rand der Zahlungsunfähigkeit stand. Die Agrarproduktion und das soziale System wurden mit gigantischen Subventionen aufrechterhalten – zum Schaden der Umwelt. Die DDR gehörte zu den Hauptumweltsündern Europas, weiß Ilko-Sascha Kowalczuk, Autor von Büchern wie „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“ (2009), „Die Übernahme“ (2019) und „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ (2024). Der Berliner Historiker nennt den 9. Oktober 1989 einen „Revolutionstag“ von entscheidender Bedeutung. Es herrschte Anspannung: Sollte es zu einer „chinesischen Lösung“ kommen, wie bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz in Peking am 3. Und 4. Juni 1989? Zwar hatte es schon zuvor Demos gegeben, aber nur von einer kleinen Minderheit – bis sich am 9. Oktober tausende Bürger in Leipzig in mehreren Kirchen zum Montagsgebet einfanden und 70.000 Demonstranten auf den Straßen skandierten: „Wir sind das Volk!“
Von Hoy nach Ha-Neu
Der Sekretär des SED-Zentralkomitees rief in Leipzig an und segnete die Entscheidung ab, die Sicherheitskräfte nicht eingreifen zu lassen. „Von diesem Tag an war klar, dass die Revolution friedlich verlaufen würde“, schreibt Kowalczuk. Am 18. Oktober trat Erich Honecker zurück. Die SED-Führung plante, die Mauer am 9. November kurzzeitig zu öffnen, um sie dann wieder hermetisch abzuriegeln. Doch sie hatte nicht mit einem derart großen Ansturm gerechnet. Der Mauerfall besiegelte das Schicksal der SED und der DDR. Der 9. Oktober war der „turning point“, der Schlüsselmoment der DDR-Geschichte, wie es Siegbert Schefke nennt. Zusammen mit dem Fotografen Aram Radomski, wie er ein Bürgerrechtler, dokumentierte er mit der Kamera die Proteste, indem er heimlich drehte. Die Aufnahmen aus Leipzig spornten die Menschen in den anderen DDR-Städten an. Sie hatten „ihre Angst vor Repressionen und Geheimpolizei besiegt“, schreibt Schefke, der heute als Publizist und Fernsehjournalist für den MDR arbeitet. Damals war eine große Lastwagen-Kolonne mit Soldaten und Polizisten angerückt, schildert er die Situation in seinem Buch „Als die Angst die Seite wechselte – Die Macht der verbotenen Bilder“ (2019). Und er beschreibt, wie Radomski zu ihm raunte: „Siggi, heute wird sich die Welt verändern.“
Bis dahin sollte es noch etwas dauern. Am 7. Dezember 1989 kam es zu Gesprächen am Runden Tisch, bei denen bereits über die Machtübergabe verhandelt wurde. Alles lief im Zeitraffer. Bundeskanzler Kohl eilte am 19. Dezember nach Dresden und wurde mit einem Fahnenmeer in Schwarz-Rot-Gold und den Rufen „Deutschland! Deutschland!“ empfangen. Bei den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990 gewann eine Allianz aus CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) zusammen 48 Prozent der Stimmen. Die SPD kam auf 21,9 Prozent, die SED auf 16,4 Prozent. Kowalczuk macht auf eine besondere Ironie der Geschichte aufmerksam: „Der Arbeiter-und-Bauern-Staat erhielt ausgerechnet von jenen den demokratisch legitimierten Todesstoß, in deren Namen das Gesellschaftsexperiment jahrzehntelang gegen Widerstände, Widerwillen und mit vielen Opfern durchgepeitscht worden war.“ Von den Arbeitern. Sie verhalfen der CDU entscheidend zum Wahlsieg, waren später aber am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen.
Zur Mitte des Jahres 1990 kam die Währungsunion, also die Einführung der D-Mark in der DDR. Heinz-Werner Meyer, damals Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, verglich es mit einem Reifenwechsel während einer rasanten Autofahrt. Die Losung aus Sicht der Ostdeutschen hieß: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Die Folgen sind nur teilweise mit Zahlen zu erklären: Die steigende Arbeitslosigkeit spiegelte nur einen Teil der Problemlage, „die für die sozialgeschichtliche Betrachtung des Transformationsprozesses entscheidend ist“, so Kowalczuk.
„In fast jeder Familie gab es mindestens eine Person, die ihren Job verlor“, erzählt Karin aus Halle. „Mit der Arbeit verloren viele auch ihre sozialen Beziehungen. Die Enttäuschung setzte den meisten Leuten psychisch zu. Manche wurden depressiv, andere wütend.“ Die medizinisch-technische Assistentin, die nicht ihren richtigen Namen genannt haben möchte, stammt aus Halle-Neustadt. In dem „Ha-Neu“ genannten, Mitte der 60er Jahre aus dem Boden gestampften Viertel mit zahlreichen Plattenbauten halbierte sich die Einwohnerzahl von fast 94.000 (1980) auf heute 47.000. Die AfD wurde in Halle-Neustadt bei der Landtags- und Bundestagswahl 2016 respektive 2017 aus dem Stand stärkste politische Kraft.
Vorruhestand, befristete Arbeitsverträge und Teilzeitbeschäftigung hießen die Notlösungen unter dem bisher unbekannten Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit, während der Ausbildungsmarkt einbrach. Während im Westen kaum jemand daran dachte, die alte Bundesrepublik zu verabschieden, wurde vom Osten Anpassung verlangt. Dagegen wehrte sich zunächst kaum jemand. „Wenn die in Ostdeutschland lebenden Ostler eines bis zur Perfektion erlernt hatten, so war das, sich anzupassen“, schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk.
Mit Helmut Kohl ins „Wunderland“
Die Struktur Ostdeutschlands veränderte sich rasant: Der Dienstleistungssektor wuchs zu Lasten von Industrie, Handwerk und Landwirtschaft. Bestand 1990 die Hälfte der Beschäftigten aus „Arbeitern“, waren es bald darauf weniger als ein Viertel. Die Diktatur wurde gegen neue Heilsversprechen eingetauscht, gegen Kohls „blühende Landschaften“, die der westdeutsche Kanzler bei der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in Aussicht stellte. Das kam bei den DDR-Bürgern gut an – nach dem Motto: „Helmut, komm und nimm uns an Deine Hand und führe uns ins Wunderland“. Den meisten Ostdeutschen sei es gar nicht um die Freiheit gegangen, stellt Kowalczuk fest, sondern um Konsum. Die „Westler“ traten als Vorgesetzte auf, die „Ostler“ als Befehlsempfänger. Statt zur Ablösung des Grundgesetzes durch eine gesamtdeutsche Verfassung (Artikel 146) kam es zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach Artikel 23 (Beitrittsartikel). Zur Übernahme.
Die Zäsur von 1989 habe keine generationelle Prägekraft entfaltet, meint der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Potsdamer Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung. So gebe es zwar 45er und 68er, aber keine 89er. Der Osten übernahm das westliche marktliberale Wirtschaftssystem. Aus dem „Wir sind das Volk“ gegen das SED-Regime wurde 25 Jahre später das wutbürgerliche „Wir sind das Volk“ der Dresdner „Abendspaziergänger“, die sich die Parole aneigneten, um gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes zu demonstrieren.
Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann wurde im vergangenen Jahr ein Bestseller, der vor allem in Ostdeutschland Erfolg hatte. Der Autor kritisiert darin die nach wie vor bestehende Ungleichheit zwischen Ost und West. Die Ostdeutschen würden stigmatisiert. Die Westler schrieben ihnen ein mangelndes Demokratieverständnis und Rassismus zu, während sie den Westen noch immer als Norm definieren. Es gelte die westdeutsche Perspektive, für die der Osten nicht mehr als eine negative Projektionsfläche sei.
Aus westdeutscher Sicht sei Deutschland in BRD und DDR geteilt gewesen, „wobei die BRD ‚Deutschland‘ blieb, während die DDR als ‚Ostzone‘ oder einfach nur als ‚Zone‘ erschien“. Nach dem Mauerfall sei die DDR dann der BRD „beigetreten“ und „firmiert seitdem im öffentlichen Raum in erster Linie als ‚Osten‘, der ‚aufholen und sich normalisieren muss‘.“ Der Osten heiße „im herrschenden Diskurs vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt Scheitern auf ganzer Linie“. Eine umstrittene Theorie lautet, der Osten sei eine Kolonie des Westens.
Dem hält Kowalczuk entgegen, „dass Oschmanns Grundthese, der Westen habe mit dem Osten gemacht, was ihm beliebte, zu einfach und kaum mit historischen Realitäten in Übereinstimmung zu bringen ist“. Oschmann mache aus dem Osten das, was er dem Westen vorwerfe: „ein seelenloses und willenloses, nicht handlungsfähiges Objekt“. Der Historiker schreibt: „Die Oschmänner und Oschfrauen jammern, klagen, fluchen – nie über sich, immer nur über andere, am liebsten über übermächtige Feinde und Gegner, denen sie ausgeliefert seien.“ Zwar sei die Transformation in der früheren DDR so schnell und radikal wie in keinem anderen postkommunistischen Land gewesen, aber auch nirgendwo so „weich und süß“.
Erziehungsdiktatur mit Langzeitfolgen
Die „Diktatur des Proletariats“ sei eine „Erziehungsdiktatur“ gewesen, die Abweichler und Aussteiger, Opponenten und Individualisten durch Kollektiverziehung maßregelte. Dass die autoritären, antidemokratischen und antifreiheitlichen Tendenzen in Ostdeutschland bis heute fortwirkten, macht der Autor am Beispiel der überdurchschnittlichen AfD-Erfolge im Osten fest. Auch diese baue auf einer Freund-Feind-Ideologie auf. Aus Umfragen zur Einstellung zur Demokratie, Geschichte, Politik und Freiheit geht hervor, dass sich etwa die Hälfte der Ostdeutschen nach autoritären, antifreiheitlichen Strukturen zurücksehnt. Die klassischen Parteien der Mitte hingegen sind selbst nach 34 Jahren Einheit in der Gesellschaft eher schwach verwurzelt, ähnlich die zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Freiheit und Demokratie bedeuteten schon zu DDR-Zeiten für die meisten vor allem Wohlstand und Reisefreiheit. Das Ziel der Sehnsüchte lag in der Bundesrepublik: Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 flohen unzählige Menschen in den Westen, infolge des Schießbefehls wurden mehr als hundert von DDR-Grenztruppen getötet. Seit 1964 durften Rentner einmal im Jahr in den Westen reisen, später waren es 60 Tage jährlich, nach dem 1973 in Kraft getretenen Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR konnten auch einige auserwählte jüngere Menschen mit besonderer Genehmigung in „dringenden Familienangelegenheiten“ zum Klassenfeind. Dagegen hätten Pressefreiheit und repräsentative Demokratie oder die Bedeutung einer Zivilgesellschaft kaum jemanden interessiert, konstatiert Kowalczuk und schreibt: „Selten war eine Gesellschaft so unpolitisch, so desinteressiert an ihren eigenen Rahmenbedingungen wie die ostdeutsche nach 1990.“ Trotzdem waren die Erwartungen groß, die mit der deutschen Einheit verbunden wurden – und noch größer war die Enttäuschung.
West- und Ostdeutschland seien „ungleich vereint“ worden, schreibt der Berliner Soziologe Steffen Mau. Der Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ von Willy Brandt, den der SPD-Vorsitzende am 10. November 1989 aussprach, am Tag nach dem Mauerfall, scheint dagegen auf einem Irrtum zu basieren. Außerdem hat es sich als ein Fehler und Missverständnis erwiesen, den Osten dem Westen angleichen zu wollen. Mau spricht von „asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung“. Sie sei geprägt durch eine „Top-Down-Entwicklung“, die durch „Transfereliten“ aus dem Westen getragen worden sei. Dessen Erfindung ist der Osten trotzdem nicht, wie es Dirk Oschmann behauptet.
Abwicklung und „Freiheitsschock“
Ich muss an Burkhardt denken. Er kam aus Eisleben, der als Geburts- und Sterbeort von Martin Luther bekannt gewordenen Stadt im Südharz. Sie war die letzte Station auf unserer Reise. Damals kannte ich Burkhardt noch nicht. Er zog in den 90er Jahren nach Südwestdeutschland, nachdem er seine Stelle als Lehrer für Marxismus-Leninismus verloren hatte, und absolvierte eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Eloquent und belesen, charmant und gesellig, schien er sich mit der „Abwicklung“ seiner DDR-Heimat, wie er es nannte, abgefunden zu haben. Weder ein frustrierter Nörgler noch Wutbürger, aber in DDR-Zeiten „linientreu“, hatte Burkhardt sich im Westen arrangiert. Er hatte eine Wohnung in Rheinland-Pfalz gekauft und sie dann weiterveräußert – und war dahintergekommen, dass man ihn mit dem Immobiliengeschäft über den Tisch gezogen hatte.
Bei einem der vielen gemeinsamen Spaziergänge gestand mir Burkhardt, dass ihm das „alte Leben“ trotzdem fehle und dass er mit der neuen „Freiheit“ nicht so leicht umgehen konnte. Oft kehrte er in seine alte Heimat ins Mansfelder Land zurück. „Für mich gibt es nicht nur eine geografische Heimat, sondern eine zeitliche“, erklärte er. „Die geistige Bequemlichkeit und politische Nichtverantwortlichkeit im ständigen Bewusstsein, dass ‚Vater Staat‘ und die Partei es schon richten, gewöhnt man sich nur schwer ab. Später fanden viele, dass sie immer nur verarscht und angelogen wurden. Dieses Gefühl ist geblieben. Aber ich kenne kaum jemanden, der seine Mitverantwortung zugibt.“ Den „Freiheitsschock“ hat Burkhardt bis heute nicht verkraftet. Der Verlust der DDR habe für ihn einen Phantomschmerz hinterlassen, den er manchmal noch zu spüren bekommt.
Anders sieht es Karin. Für die Mittfünfzigerin aus Halle-Neustadt ist die DDR „wie eine alte Wunde, die nie ganz verheilt ist“. Als sie erfahren habe, dass ihre beste Freundin eine IM bei der Staatssicherheit war, brach für sie eine Welt zusammen. „Die vermeintliche Sicherheit in der DDR, dieses All-Inclusive-Gefühl, war schon lange abhandengekommen“, erzählt sie, „aber plötzlich schien jemand in meine intimste Privatsphäre eingedrungen zu sein. Der Staat, die Stasi – ich habe sie schon vorher verachtet, als ich meine Stasi-Akte las, noch viel mehr. Sie haben einen Teil von mir geraubt. Und ich wurde von einer mir sehr vertrauten Person betrogen und verraten.“ Ihr sei bislang jede Form der „Ostalgie“ fremd, sagt sie. Seit gut 30 Jahren lebt sie im Westen. „Manchmal spüre ich noch“, fügt sie hinzu, „wie die Wunde brennt.“
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