Völkerrecht / 75 Jahre Genfer Konventionen
Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam das humanitäre Völkerrecht neue Eckpfeiler: Die vier Genfer Konventionen wurden am 12. August 1949 verabschiedet. Sie sollten das menschliche Leid im Krieg zumindest lindern. Doch immer wieder werden die Regeln missachtet.
Wenn Russland ukrainische Kinder aus besetzten Gebieten über die Grenze verschleppt, wenn Israel zur Zerstörung einer Terrorgruppe Wohngebäude und Schulen im Gazastreifen unverhältnismäßig bombardiert und die Hamas Zivilisten als Schutzschilde missbraucht, wenn Kriegsparteien im Sudan Städte belagern und die Bevölkerung aushungern, dann sind das Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Eckpfeiler der Regeln im Krieg, die vier Genfer Konventionen, sind unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs erarbeitet und am 12. August 1949 verabschiedet worden. Damit begann eine Entwicklung, die als ‚Humanisierung des Kriegsrechts‘ bezeichnet wurde: Der humanitäre Schutz des einzelnen Menschen wurde deutlich verstärkt.
Der Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht der Universität zu Köln, Claus Kreß, nennt als Beispiel das umfassende Verbot der Geiselnahme in Artikel 34 der vierten Genfer Konvention. „Zu dessen Vorgeschichte gehören die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: Hier standen auch deutsche Geiseltötungen im Zweiten Weltkrieg zur Anklage, mit denen von Widerstandshandlungen in den besetzten Gebieten abgeschreckt werden sollte. Die Nürnberger Richter stellten fest, dass Geiselnahmen im klassischen Kriegsrecht nicht kategorisch verboten waren.“
Das Völkerrecht des bewaffneten Konflikts wird momentan auf fürchterliche Weise verletzt, geradezu mit Füßen getreten. Im Fall von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das besonders augenfällig.Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht der Universität zu Köln
Die Genfer Konventionen schlossen diese Lücke – wie auch viele andere. So fand sich in dem gemeinsamen Artikel 3 der Abkommen zum ersten Mal in der Völkerrechtsgeschichte eine Regelung für den Bürgerkrieg. „Im klassischen Kriegsrecht ging es demgegenüber allein um die bewaffnete Konfrontation von Staaten“, sagt Kreß dem Tageblatt.
Die Genfer Konventionen regeln verschiedene Bereiche: die Behandlung von Verwundeten und Kranken an Land (1), von Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen auf See (2), den würdigen Umgang mit Kriegsgefangenen (3) und den Schutz von Zivilisten im Krieg (4).
Lehren aus einer neuen Zeit
Doch in Zeiten großer Konflikte und Konfrontationen, wenn Machtinteressen dominieren, hat es die Menschlichkeit schwer. Während des Kalten Krieges ließ das Interesse an einer Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts zunächst nach. Fast drei Jahrzehnte dauerte es, bis im Jahr 1977 zwei Zusatzprotokolle beschlossen wurden. Sie beinhalteten Lehren einer neuen Zeit.
„Die 1960er Jahre waren die Dekade der Dekolonialisierung“, sagt Kreß. „Als die Zusatzprotokolle in den 1970ern verhandelt wurden, war die Welt eine andere geworden. Die meisten großen Kolonialkriege waren ausgefochten und unabhängige Staaten daraus hervorgegangen. Diese wollten, dass der koloniale Befreiungskampf nicht länger als Bürgerkrieg behandelt, sondern als internationaler bewaffneter Konflikt klassifiziert wird.“
So kam es auch. „Es war eine Forderung von hoher symbolischer Bedeutung, und sie fand ihren Weg in Artikel 1(4) des ersten Zusatzprotokolls. Dabei wurde mit Blick auf die Apartheid in Südafrika auch der antirassistische Kampf hochgestuft, ebenso wie der bewaffnete Kampf gegen fremde Besetzung.“ Es sind bis heute hochaktuelle Themen.
Die Anwendung des humanitären Völkerrechts bei innerstaatlichen Konflikten wurde im zweiten Zusatzprotokoll geregelt. „Allerdings waren die Regierungen der neu entstandenen Staaten nun ähnlich zurückhaltend wie die westlichen Länder schon 1949 gegenüber der Idee, dass ihre Handlungsbefugnisse bei Bürgerkriegen durch das Völkerrecht eingeschränkt werden könnten“, sagt Kreß. Deshalb hat dieser Vertrag nur 28 Artikel. Zum Vergleich: Das erste Zusatzprotokoll, das internationale bewaffnete Konflikte regelt, hat 102 Artikel.
Haftbefehl gegen Putin „präzedenzlos“
Nach Ende des Kalten Krieges waren es Gewaltexzesse vor den Augen der Weltöffentlichkeit, die der Idee einer internationalen Strafgerichtsbarkeit Vorschub leisteten: die Balkankriege und der Völkermord in Ruanda. Internationale Tribunale wurden eingerichtet, um die Verantwortlichen, darunter hochrangige Politiker, zur Rechenschaft zu ziehen.
„Das Völkerrecht der bewaffneten Konflikte hat bis zu den 1990er Jahren an einer chronischen Durchsetzungsschwäche gelitten“, sagt Kreß. Das änderte sich nun. „Man könnte böse sagen, dass die Gerichtsgründung in beiden Fällen eine Ersatzhandlung dafür war, dass man die Menschen zuvor nicht wirksam geschützt hatte.“ Wenige Jahre später, 1998, wurde schließlich der erste ständige internationale Strafgerichtshof der Rechtsgeschichte aus der Taufe gehoben – mit Sitz im niederländischen Den Haag.
Auch heute muss sich das humanitäre Völkerrecht noch bewähren. Mit Blick auf Konflikte rund um den Globus sagt Kreß: „Das Völkerrecht des bewaffneten Konflikts wird momentan auf fürchterliche Weise verletzt, geradezu mit Füßen getreten. Im Fall von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das besonders augenfällig.“ Doch Institutionen des internationalen Rechts sind tätig geworden. Den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin etwa, amtierender Präsident Russlands, das ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist, nennt Kreß „präzedenzlos“.
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