Musik / A Lucid Dream: Fontaines D.C. im Atelier
Die Iren stellen Auszüge ihres dritten Albums vor – und fokussieren sich dabei gleichzeitig auf die zahlreichen Hits ihrer noch jungen Karriere.
Man konnte die Lust, endlich wieder Livemusik wie früher, sprich vor der Pandemie, zu erfahren, spüren. Denn trotz der rezenten Lockerungen, die ja eigentlich keine Lockerungen, sondern vielmehr eine fast uneingeschränkte Rückkehr zur Normalität sind, fallen nach wie vor (zu) viele Konzerte aus, weil sich ein Bandmitglied während der Tour angesteckt hat. Und auch unter Konzertgängern verhindert die Pandemie nach wie vor so manchen daran, die seit zwei Jahren ersehnte Rückkehr zur Liveshow zu genießen.
Nichtsdestotrotz war das „Atelier“ für das Fontaines-D.C.-Konzert ausverkauft – selbst in den ruhigeren Ecken, die jeder treue Atelier-Besucher seit Jahren für sich entdeckt hat, trat man dem Nachbarn beim Tanzen quasi auf die Füße. Getanzt wurde definitiv, und bei dem an The Clash und die Libertines erinnernden „Sha Sha Sha“, das auf den Opener „A Lucid Dream“ von der zweite Platte „A Hero’s Death“ folgte, flogen bereits die ersten Bierbecher – ein ganz deutlicher semantischer Hinweis darauf, deutlicher eigentlich als jeder Applaus, wie toll das Publikum das Konzert findet. Auf der Bühne misshandelt Sänger Grian Chatten seinen Mikroständer, als würden beide eine jahrelange Fehde austragen, die ganze Band wirkt wie ein hypernervöses, unter Strom stehendes Ensemble.
Wer die drei Platten der Iren kennt, konnte sich zu Recht vor Beginn des Konzerts fragen, wie die Band die Brücke zwischen der rastlosen, ungestümen Energie des Debüts und den ruhigeren, vielschichtigen Tracks ihrer neuen, politischsten Platte zu schlagen geplant hatte. Die Antwort lautet: mit viel Druck und Geschwindigkeit. Speziell das ergreifende „I Love You“, das sich mit der irischen Identität auseinandersetzt, ist im Vergleich zur Albumversion gefühlt doppelt so schnell und doppelt so intensiv. Aber auch Tracks wie die Lead-Single „Jackie Down the Line“ oder das an Primal Scream erinnernde „Skinty Fia“ fügen sich nahtlos in eine Setlist ein, die die schnellen, treibenden Highlights des Debüts neben die Verweigerungshymne „I Don’t Belong“ oder das sozialkritische „Televised Minds“ stellt.
Zum Abschluss gab es das bisher unveröffentlichte „Nabokov“ – quasi als Teaser für „Skinty Fia“, das am 22. April erscheint. So kommt die dunkle, politischere Seite der neuen Platte beim Live-Set vielleicht nicht ganz zur Geltung – die kann der Zuhörer dann in zwei Wochen auf dem Album entdecken.
Der Grabstein als Politikum
Nach dem furiosen, ungeschliffenen Debüt „Dogrel“, dank dessen die junge irische Band quasi über Nacht zu den neuen Rettern des Indie-Rocks wurde, veröffentlichten Fontaines D.C. das für die Grammys nominierte „A Hero’s Death“ – eine ruhigere, dunklere Platte, die den ungestümen Sound des Debüts um einiges erweiterte und auch vom Songwriting her komplexer war.
Als Mitte Januar „Jackie Down the Line“, das mit seinen akustischen Gitarren teilweise einen The-Smiths-Vibe hat, erschien, kündigte sich ein weiterer Stilwechsel an – weg vom Post-Punk, hin zu mehr Indie-Pop. Auf „I Love You“ wurde es dann deutlich: Fontaines D.C., die vor kurzem aus der irischen Heimat nach London gezogen sind, veröffentlichen ihre politischste Platte. Denn das Lied mit dem scheinbar banalsten Titel der Popgeschichte ist in Wahrheit eine sehr zweideutige Liebeserklärung an die Heimat: Auf „Skinty Fia“ wird die irische Identität bis in den Album- und Openertitel verdichtet.
In London erfuhr die Band, was es bedeutet, als Ire in England zu leben, erfuhr, wie man aufgrund seiner Identität plötzlich abgestempelt wurde, erfuhr den ewigen Versuch Englands, irische Kultur und Identität abzuwerten. In „I Love You“ verhandelt Grian Chatten das schlechte Gewissen, seine Heimat verlassen zu haben, um in ein Land zu ziehen, das zum Teil für die Lage in Irland verantwortlich ist – und hinterfragt trotzdem sehr kritisch ebendiese irische Identität.
Am stärksten scheint dies durch im Opener „In ár gCroíthe go deo“ (auf Englisch: „in our hearts forever“). Der Titel bezieht sich darauf, dass die englische Kirche vor zwei Jahren der Familie der verstorbenen Margaret Keane diese Grabschrift verweigerte – mit dem Argument, eine Grabschrift auf Irisch könnte als Politikum missverstanden werden. Der Opener klingt dann auch gleichzeitig elegisch und aufgebracht – und schlägt damit den Ton für die verbleibenden neun Tracks an.
Musikalisch ist das Album dabei äußerst vielseitig – das titelgebende „Skinty Fia“ erinnert sehr an Bands aus den 90ern wie Primal Scream oder Death in Vegas, „How Cold Love Is“ hätte auch auf „A Hero’s Death“ fungieren können. Die Folkballade „The Couple Across The Way“ hätte man sich jedoch sparen können – und im Allgemeinen hätte man sich, angesichts der berechtigten Wut, die sich aus den Texten kristallisiert, eine energischere, weniger niedergeschlagene Platte erwarten können.
Nichtsdestotrotz gelingt es den Iren auf „Skinty Fia“, ihr auf „A Hero’s Death“ geschliffenes Songwriting zu verfeinern, gleichzeitig neues stilistisches Territorium zu erkundigen – und trotz ein paar Füllern einige ihrer besten Songs zu schreiben
Anspieltipps: „Jackie Down the Line“, „I Love You“, „In ár gCroíthe go deo“
Bewertung: 7/10
- Barbie, Joe und Wladimir: Wie eine Friedensbotschaft ordentlich nach hinten losging - 14. August 2023.
- Des débuts bruitistes et dansants: la première semaine des „Congés annulés“ - 9. August 2023.
- Stimmen im Klangteppich: Catherine Elsen über ihr Projekt „The Assembly“ und dessen Folgeprojekt „The Memory of Voice“ - 8. August 2023.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos