„pOpera“ der Fondation EME / Ahmed Kassem, Teilnehmer des Opernprojekts: „Kunst hat die Kraft, Ängste abzubauen“
Das Opernprojekt „pOpera“ der Fondation EME will Menschen verbinden – und das gelingt, wie der Teilnehmer Ahmed Kassem berichtet. Über das Treffen mit einem passionierten Musikfreund aus Syrien.
Im Café ist es stickig; Ahmed Kassem wischt sich nach der Begrüßung den Schweiß von der Stirn und verrät lächelnd: Er mag den Sommer nicht. Es fällt leicht, mit dem 43-Jährigen ins Gespräch zu kommen, besonders gern erzählt er von seiner Familie, von der ihn momentan viele Kilometer trennen. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, sagt Kassem gleich zu Beginn des Austauschs mit dem Tageblatt. „Und ich war ein guter Schüler … bis zum Gymnasium.“ Er grinst verschmitzt. Kassem wuchs in einer mittelständischen Familie in Syrien auf und ist das jüngste von sieben Geschwistern. Heute ist er selbst Vater von drei Söhnen, die derzeit nicht mit ihm zusammenleben. Eines seiner Kinder wurde nach dem Musiker und Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart benannt – ein erster Hinweis auf Kassems Leidenschaft für Klassik.
2023 zog er nach Luxemburg, wo er jetzt auf die Bearbeitung seines Asylantrags wartet. Das Thema – das Warten, die Hoffnung, die Gründe für seine Antragsstellung – kommen während des Gesprächs immer wieder auf, doch rücken sie in den Hintergrund, wenn Kassem über sein Verhältnis zu Musik und seine Teilnahme an dem inklusiven Opernprojekt „pOpera“ der Fondation EME spricht. Auf sein Interesse daran angesprochen, warnt Kassem: Um das zu erklären, müsse er weit ausholen – und das tut er.
Musik als Lebensbegleiterin
Die Musik habe ihn sein ganzes Leben lang begleitet. „Ich bin Teil der Radio-Generation“, merkt er an. In seiner Kindheit in Syrien sei das Radio unter anderem zur Vermittlung des Regierungsprogramms genutzt worden. Die Sender spielten jedoch auch eingängige Lieder, vor allem Klassik bekannter Musikschaffender. Dies beeinflusste ihn in jungen Jahren, doch hatte er einen weiteren Zugang zur Musik: „Mein Bruder Nadjat war meine erste Inspirationsquelle. Damals kaufte er Kassetten – eine davon war von Pink Floyd, Ende der 1980er-Jahre. Mein Vater hörte hingegen vorwiegend arabische klassische Musik, bis ich ihm ein Konzert von einem meiner Lieblingskünstler zeigte: der amerikanisch-griechische Musiker Yanni.“
Später kaufte Kassem sich seinen ersten, eigenen Walkman. Er denkt an die Kassetten zurück, die er in Dauerschleife hörte: Beethovens Symphonien 5 und 9 sowie arabische Klassik. „Klassische Musik hat eine besondere Wirkung auf mich“, so Kassem. „Sie lenkt mich von meinen eigenen Gedanken ab.“ Darüber hinaus verhalf sie ihm zu engen Freundschaften, wie der zu Hassan, den er während seiner Studienzeit an der Universität in Damaskus kennenlernte.
Als ich Syrien verließ, blieb eine Kollektion von ungefähr 300 Sammelobjekten zurück. Einige davon waren noch in der Originalverpackung eingeschweißt.Teilnehmer von „pOpera“
Hassan spielte Oud (Laute, d.R.) und interessierte sich stark für klassische Musik. „Er teilte die Entstehungsgeschichte berühmter Stücke mit mir, zum Beispiel die zu Beethovens ‚Für Elise‘“, erinnert Kassem sich und kann sich das Lachen nicht verkneifen. „Ich bin unsicher, ob seine Version der Wahrheit entspricht, doch ehrlich gesagt ist mir das egal, weil ich die Erinnerung so schön finde.“ Die Freunde erarbeiteten sich ihr Wissen über Musik, indem sie das Magazin Musical Life lasen und die dortigen Artikel diskutierten.
Über die Jahre hinweg trafen Kassem und Hassan auf weitere Menschen, die ihre Leidenschaft teilten. „Die Musik hat uns verbunden“, sagt Kassem, der sich selbst als introvertiert beschreibt. Er wurde im Laufe der Zeit zum Sammler von Kassetten, Konzert-DVDs, Schallplatten und mehr. „Als ich Syrien verließ, blieb eine Kollektion von ungefähr 300 Sammelobjekten zurück“, schätzt er. „Einige davon waren noch eingeschweißt in der Originalverpackung.“
Bevor Kassem zum Musikkenner und Sammler wurde, träumte er davon, ein Instrument zu erlernen. Diesen Wunsch hat er inzwischen aufgegeben, in der Hoffnung, dass seine Söhne ihn verwirklichen. Dass er eines Tages auf der Bühne stehen und in einer Oper mitwirken würde, damit hätte Kassem allerdings nicht gerechnet – dabei ist es genau das, was 2023 geschah, als er sich an „pOpera“ beteiligte.
Teilnahme an „pOpera“
Er erfuhr durch Singa davon, eine Organisation, die Newcomers (Menschen, die neu in Luxemburg sind und einen Asylantrag gestellt haben/stellen, d.R.) in Luxemburg betreut. Es hieß, es werde nach Freiwilligen für eine Oper gesucht. „Ich dachte, ich müsse die Bühne wischen oder den Künstlern assistieren.“ Kassem zuckt mit den Schultern. „Und wissen Sie was? Das wäre für mich voll in Ordnung gewesen.“ Umso erfreuter war Kassem, als er begriff, dass er Teil des künstlerischen Teams sein darf. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich eines Tages in einer Philharmonie, inmitten Europas, eine Oper performen würde“, wundert er sich noch heute. „Das gab mir Hoffnung, dass ich – obwohl ich auf die 50 zugehe – noch brauchbar bin und Träume verfolgen kann; dass ich eine Zukunft habe.“
Er ist immer noch beeindruckt von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft des Projektteams, das von den Teilnehmenden nur eins verlangt habe: dass sie ihr Bestes geben. Eine gute Stimme oder Musikkenntnisse sind keine Voraussetzung für die Teilnahme. Kassem erwähnt wiederholt die Zusammenarbeit mit dem gesamten künstlerischen Team, unter anderem auch mit dem luxemburgischen Autor Antoine Pohu, ebenfalls Teil von „pOpera“. „Antoine hat die Geschichten und Ideen der Teilnehmenden zu einem großartigen Text verwoben. Tim steuerte die Musik bei, die zur Geschichte passt“, beschreibt Kassem den Schaffensprozess. „Es war wundervoll.“
Zweite Passion: Literatur
In dem Zusammenhang kommt Kassem auf seine weiteren Leidenschaften neben der Musik zu sprechen: das Schreiben und die Literatur. „Ich will nicht angeben, aber ich denke, dass die klassische arabische Lyrik einige der schönsten Bilder vermittelt, die je in Worte gefasst wurden.“ Bewegt von der Literatur, zeigt er auf die sichtbare Gänsehaut auf seinem Arm und nennt zwei seiner Lieblingsautoren: der türkische Autor Aziz Nesin und der britische Schriftsteller Colin Wilson. „Nesin war berühmt für seinen schwarzen Humor: Er brachte die Menschen gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen. Er kam aus der Türkei, doch ich erkenne in der arabischen Übersetzung seiner Werke viele Parallelen zur syrischen Gesellschaft“, sagt Kassem. „Wilson lernte ich durch Najdat kennen. Während meinem ersten Studienjahr las ich ‚The Delta‘: Das Buch hat meine Perspektive auf Freiheit geprägt: Freiheit ist nicht gleich Chaos, sie geht mit großer Verantwortung einher und muss weise genutzt werden.“
Kassem übte sich selbst im Schreiben, teilte seine Verse in den sozialen Netzwerken. Er löschte seine Facebook-Seite, weil ihm, dem Introvertierten, diese Sichtbarkeit nach einer Weile unangenehm war – bis er auf Antoine und die Teilnehmenden von „pOpera“ traf. „Ich habe ihnen nach ein, zwei Tagen einige Verse gezeigt, die ich auf Englisch verfasst habe. Antoine gab mir eine positive Rückmeldung; wir trafen uns sogar nur zu zweit, um neue Ideen zu besprechen. Er motivierte mich, weiterzuschreiben“, erinnert er sich.
Aufgrund seiner aktuellen Lebensumstände, auf die Kassem in der Öffentlichkeit nicht weiter eingehen möchte, kann er sich nicht an der aktuellen Phase des Projekts beteiligen. Momentan wird den Teilnehmenden mehr Zeit und Kraft abverlangt, die Kassem nicht erbringen kann. Macht ihn das traurig? Nein, meint Kassem, denn er weiß, dass er jederzeit wieder dazustoßen kann. Dieses Gefühl, immer willkommen zu sein, ist wohl einer der Gründe, weshalb Kassem Menschen eine Teilnahme an „pOpera“ empfiehlt. Er fügt dem bei: „Es ist befriedigend, Teil eines solchen Projekts zu sein, wenn deine eigene Handlungsfähigkeit gerade eingeschränkt ist.“ Ähnlich begeistert berichtet Kassem von dem sozialen und kulturellen Zusammenhalt, der durch ein Projekt wie dieses entsteht.
Liebe und Hass sind die mächtigsten Gefühle, durch die Einheit entsteht: Menschen kommen entweder zusammen, weil sie dasselbe lieben oder hassen. Verbundenheit durch Liebe führt zu Sympathie, Mitgefühl. Einheit durch Hass provoziert Hass.Teilnehmer „pOpera“
„Darüber könnte ich stundenlang reden“, versichert er. Doch was ist der konkrete Mehrwert von Kultur, im Hinblick auf die Inklusion? Er schiebt der Antwort sein persönliches Verständnis von Inklusion voran: „Ich definiere Inklusion als Einheit. Liebe und Hass sind die mächtigsten Gefühle, durch die sie entsteht: Menschen kommen entweder zusammen, weil sie dasselbe lieben oder hassen. Verbundenheit durch Liebe führt zu Sympathie, Mitgefühl. Einheit durch Hass provoziert Hass.“ Kunst sei der Lehm, aus dem man Mitgefühl formen könne, beziehungsweise: „Kunst ist die Sprache der Inklusion und ihr wirksamstes Alphabet ist die Musik.“
Warum ausgerechnet die Musik, erklärt Kassem fast schon routiniert: „Das Theater kannst du nicht zu jeder Tageszeit besuchen, doch Musik begleitet dich ständig: Wir summen Lieder vor uns hin; wir können überall Musik hören – auch wenn sie manchmal nur im Hintergrund läuft. Aus dem Grund ist Musik ein effizientes Mittel, um Menschen zusammenzubringen.“
Kunst ist die Sprache der Inklusion und ihr wirksamstes Alphabet ist die MusikTeilnehmer „pOpera“
Das sei besonders relevant im Hinblick auf den Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen. „Menschen aus meiner Kultur hegen bei ihrer Reise nach Europa oft die große Angst, dass sie Teile ihrer Identität zurücklassen müssen, um dazuzugehören“, sagt er, „denn das ist es, was die meisten von uns wollen: dazugehören, Teil dieser Gesellschaft sein.“ Einige Newcomer würden dieses Ziel nicht verfolgen, das streite er nicht ab. „Ihr Verhalten hat für uns alle katastrophale Folgen“, bedauert er. „Es spielt den Menschen in die Karten, die nicht wollen, dass Inklusion gelingt.“
Inklusion durch Kultur
Für Kassem bedeutet Inklusion jedenfalls nicht, die eigene Kultur hinter sich zu lassen oder seine Identität zu negieren. „Vielmehr geht es darum, stolz darauf zu sein, wer man ist – und anderen Menschen zu erlauben, dies auch zu sein“, schlussfolgert er. Kunst helfe bei diesem Prozess, denn jeder Mensch könne Kunst aus seinem Heimatland teilen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Dies helfe, einander besser zu verstehen.
Auch wenn er kein großer Fan der Musik seiner Heimatstadt sei, habe er ein paar Stücke in seinem Deutschkurs vorgestellt. „Jeder Musiker, der dich dazu bringt, deine Füße zu bewegen, verdient unseren Respekt“, scherzt er, wird aber sogleich wieder ernst. „Kunst hat die Kraft, Ängste abzubauen.“ Doch auch der kreative Prozess an sich war für Kassem ein Gewinn. „Seit ich in Luxemburg lebe, habe ich mich noch nie so sicher gefühlt wie bei den Proben und Treffen für das Opernprojekt“, offenbart er. „Ich konnte mit dem Team Gedanken und Gefühle teilen, von denen ich sonst niemandem erzählen würde. Nicht einmal meinem Anwalt“, behauptet er. „Die Künstler wussten genau, wie sie mit unseren Emotionen umgehen müssen. Wir waren uns gegenseitig eine emotionale Stütze.“
Wenige Tage nach dem Treffen im Café ist der Sommer vorbei: Der Himmel ist grau, der Wind weht, es ist kalt. An einem dieser Tage, die eher zum Trübsalblasen als zum Träumen einladen, erreicht das Tageblatt eine Nachricht von Kassem. Er entschuldigt sich, dass er sich nicht früher melden konnte, und teilt auch den Grund dafür mit. Er war wider Erwarten bei einem Treffen von „pOpera“ – und er hat noch eine letzte Bitte vor der Publikation. Kassem möchte ein Zitat von Nietzsche teilen: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“
Über „pOpera“
„pOpera“ ist ein inklusives Opernprojekt der Fondation EME, das von 2023 bis 2026 läuft: Bis dahin sollen Berufskünstler*innen gemeinsam mit „Newcomers“ und weiteren Teilnehmer*innen eine Oper komponieren, die zum Abschluss 2026 mit dem Orchester der Philharmonie aufgeführt wird. 2023 gab das Team mit einer kurzen Show erste Einblicke in seine Arbeit; am 11. und am 12. September um 19 Uhr tritt es erneut in der Philharmonie auf. Weitere Informationen unter fondation-eme.lu sowie im Interview mit der Projektkoordinatorin Christine Bausch (siehe Tageblatt-Ausgabe vom 9. September).
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