Neues Theaterfestival „Gem“ / Ainhoa Achutegui: „Wir müssen hinterfragen, was wir auf die Bühne bringen“
Das Neimënster hat ein neues Theaterfestival: Diese Woche feiert „Gem“, zuvor eine Veranstaltungsserie, Premiere. Ein Gespräch mit Ainhoa Achutegui, Direktorin des Kulturzentrums, über Juwelen und Diversität auf der Bühne.
Tageblatt: Ainhoa Achutegui, warum wird aus der Theaterserie „Gem“ jetzt ein Festival?
Ainhoa Achutegui: Wir wollen dem Publikum schon vor dem Start der Theatersaison, welche das Theaterfest am 20. September einläutet, etwas bieten. Die Serie „Gem“ entstand vor zwei Saisons aus dem Willen heraus, Theaterfans eine Auswahl besonderer Produktionen verschiedenster Formate vorzustellen – „Juwele“ –, die uns aufgefallen sind. Eine Serie erstreckt sich über einen längeren Zeitraum; die Vorstellungen konkurrieren je nachdem mit dem regulären Theaterprogramm und die Einzeltermine geraten schneller in Vergessenheit – im Gegenteil zu einem Festival, das sowohl den Kulturschaffenden als auch dem Team und dem Publikum eine andere Energie vermittelt. Das erleben wir auch beim „Aerowaves Dance Festival“, das wir alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Trois C-L veranstalten.
Ein Festival, das ebenfalls Anfang September stattfindet.
Genau, das „Gem“ und das „Aerowaves“ wechseln sich in Zukunft ab: Dieses Jahr veranstalten wir „Gem“, nächstes Jahr ist „Aerowaves“ wieder an der Reihe.
Was für eine Philosophie verfolgen Sie mit „Gem“?
Die Philosophie von „Gem“ ist es, zugängliche Stücke zu zeigen, die dennoch qualitativ hochwertig sind. Unsere Hoffnung ist es, Menschen anzusprechen, die sonst nichts mit Theater am Hut haben, sowie Jugendliche.
Gehen Jugendliche sonst nicht ins Theater?
Die Idee, dass Jugendliche allein ins Theater gehen, ist illusorisch. Auch, wenn viele Kolleg*innen darauf hoffen. Ich bin mit 14 auch lieber in den Film „Cocktail“ gegangen als zu einer Theatervorstellung. Wenn wir jedoch Stücke programmieren, die Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen ansprechen, sind die Chancen höher, dass die Heranwachsenden beispielsweise ihre Eltern zu einer Vorstellung begleiten.
Warum liegt der Fokus des „Gem“-Festivals auf Identitätsfragen?
Weil es wichtige Themen sind. Wir beschäftigen uns als Neimënster allgemein intensiv mit gesellschaftlichen Sujets und den Rollen, die uns allen in der Gesellschaft zugeteilt werden. Das spiegelt sich in unserem regulären Programm, beispielsweise in unseren Ausstellungen. Als Kulturinstitution verstehen wir uns als Vektor des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Um diesen zu stärken, beziehungsweise zu erreichen, müssen wir wissen, welchen Platz wir in der Gesellschaft einnehmen oder wie wir diesen einfordern. Die Wahl für diesen thematischen Fokus war für uns also naheliegend.
Die Formate reichen vom humoristischen Solo bis zum Poetry-Slam.
Die Form ist nicht das, worauf es ankommt – das Thema und seine Wirkung stehen im Mittelpunkt. Das Clown-Stück, das Sie ansprechen, ist „A-t-on toujours raison?“ von und mit Fred Blin. Grob zusammengefasst geht es darin um einen Schauspieler, der den Clown geben soll. Eigentlich will er jedoch als Schauspieler ernst und wahrgenommen werden. Mit Humor vermittelt Blin: Die Gesellschaft will dich in eine Schublade stecken, in der du dich nicht siehst. Wie kannst du ihr klarmachen, dass du dich anders wahrnimmst? Blin, der selbst ein exzellenter Schauspieler ist, bringt das Publikum gleichzeitig zum Lachen und zum Nachdenken.
Wir beschäftigen uns intensiv mit gesellschaftlichen Sujets und den Rollen, die uns allen in der Gesellschaft zugeteilt werden. Als Kulturinstitution verstehen wir uns als Vektor des gesellschaftlichen Zusammenhalts.Direktorin Neimënster
Was hat Sie dazu bewegt „Personne n’est ensemble sauf moi“ – ein Stück, in dem neurodiverse Amateurschauspielende mitwirken – zu programmieren?
Dieses Stück ist ein Höhepunkt für mich. Es wurde in enger Zusammenarbeit mit Menschen, die ein unsichtbares Handicap haben, erarbeitet. „Personne n’est ensemble sauf moi“ ist kein Wohlfühlstück – Behinderung wird darin nicht romantisiert, geschweige denn die Betroffenen verniedlicht oder belächelt. Stattdessen thematisiert es unter anderem, wie schwer die Gesellschaft es Menschen mit Handicap macht, ihren Platz im Alltag zu finden. Ob das nun in der Schule oder anderswo ist. Manche haben Schwierigkeiten, ernst genommen zu werden. Teilweise müssen sie sich Aussagen gefallen lassen wie ‚Du siehst gar nicht aus, wie ein*e Autist*in‘ – das kommt einer Wertung gleich.
Warum ist das Stück Ihr Highlight?
Es geht schlichtweg unter die Haut. Auch, weil es die Normalität neurodiverser Menschen unterstreicht, statt sie von neurotypischen Menschen abzugrenzen. Zwar wird herausgearbeitet, dass verschiedene Personen mit Handicap spezifische Bedürfnisse haben und Unterstützung benötigen, doch unterscheiden sie sich deswegen nicht fundamental von jenen, die nicht darauf angewiesen sind. Mir ist es außerdem ein Anliegen, dass Werke zu solchen Themen mit Betroffenen und entsprechenden Organisationen entstehen – und nicht über deren Köpfe hinweg. Mein ganzes Team – darunter befinden sich neurodiverse Mitarbeitende – ist von dem Stück begeistert.
Warum braucht es ein eigenes Festival für solche Stücke, wenn das Neimënster in seinem Programm ohnehin auf Diversität setzt?
Sie haben recht: Die Stücke von „Gem“ wären sicherlich in unserem regulären Programm untergekommen. Wir haben uns jedoch – wie vorhin bereits erwähnt – für das Festival und dessen besonderen Flair entschieden. Die Tanzperformances von „Aerowaves“ hingegen könnten wir schwieriger im Programm unterbringen: Viele dauern nur eine Viertelstunde, maximal 40 Minuten. Damit können wir keine Abendveranstaltung füllen.
Wie divers schätzen Sie die luxemburgische Kulturszene allgemein ein?
In Bezug auf Menschen mit Behinderung?
Zum Beispiel.
Ich möchte in dem Kontext zunächst auf einige großartige Projekte verweisen, wie das Kulturnetzwerk „Mosaik – Kultur inklusiv“, das auf Initiative des Mierscher Theaters gegründet wurde, oder auch auf die „Cooperations – entreprises socio-culturelles“. Diese und weitere Stellen bemühen sich um mehr Inklusion im Kulturbereich und das ist begrüßenswert. Sie und weitere Akteur*innen sind die wahren Profis in diesem Bereich.
In vielen Bereichen dominieren weiße Menschen ohne Behinderung den KulturbetriebDirektorin Neimënster
Dies bleibt jedoch die Ausnahme?
In dem Kontext müssen wir zwei Aspekte betrachten: die Begrüßung von Menschen mit Handicap in unseren Kulturinstitutionen und ihre aktive Teilnahme an Kulturproduktionen. So gibt es beispielsweise Events für Kinder mit schweren Behinderungen, bei denen die Lichtverhältnisse an ihre Bedürfnisse angepasst werden und die Künstler*innen diese Umstände berücksichtigen. Es ist dort in Ordnung, wenn die Kinder zwischendurch den Raum verlassen müssen. Kurzum: Das Team weiß, wie es mit dem Publikum umgehen soll. Ein anderes Thema ist die Präsenz von Menschen mit sichtbarer Behinderung im Kulturbetrieb oder auf der Bühne. Sie sind kaum zu finden. Das betrifft aber nicht nur Luxemburg.
Worauf spielen Sie an?
In vielen Bereichen dominieren weiße Menschen ohne Behinderung den Kulturbetrieb. Noch dazu gibt es oft mehr Männer als Frauen auf der Bühne. So ist der Großteil der Absolvent*innen an Tanzschulen Frauen, während im Tanzsektor auf der Bühne fast Parität herrscht. Das ist paradox, oder? Ich mache ähnliche Beobachtungen im Jazz: Die Entstehung des Jazz ist auf Schwarze Musiker*innen zurückzuführen, doch in den Jazz-Programmen sind sie inzwischen in der Unterzahl. Das ist Ausdruck der kulturellen Aneignung. Im Neimënster sind wir uns dieser Problematik bewusst und versuchen selbstkritisch auf unsere Programmierung zu blicken. Dasselbe gilt darüber hinaus für die Sichtbarkeit von trans Künstler*innen und Kulturschaffende mit Körpern, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, oder für ältere Schauspielende.
Und welche Konsequenz ziehen Sie daraus?
Die Kulturbranche muss sich selbst evaluieren: Wir müssen hinterfragen, was wir auf die Bühne bringen und uns unserer eigenen Privilegien – in meinem Fall der Fakt, dass ich weiß und neurotypisch bin – bewusst werden.
A-t-on toujours raison?
Unglückliche Clowns gibt es oft, doch dieser hier ist anders: Fred Blin hinterfragt in seinem Solo-Stück „A-t-on toujours raison?“ die Rolle, die einem die Gesellschaft zuschreibt. Er gibt den Schauspieler, der entgegen seiner beruflichen Überzeugung den Clown mimen soll. Blin besuchte selbst die Schule des Zirkus Fratellini und des Theaters Samovar; war 20 Jahre lang Mitglied des Quartetts „Les Chiche Capon“ – einem modernen Clown-Ensemble.
Am Donnerstag, 5. September, um 20 Uhr. Auf Französisch.
Personne n’est ensemble sauf moi
In „Personne n’est ensemble sauf moi“ treffen vier Heranwachsende mit einem nicht sichtbaren Handicap aufeinander. In ihrem neuen Theaterstück basiert sich Clea Petrolesi, Leiterin der „Compagnie Amonine“, auf die Erfahrungen junger Menschen mit Behinderung.
Die Idee entstand bei der Zusammenarbeit mit den Betroffenen im Rahmen des Programms „Phares“: Dieses hat zum Ziel, Heranwachsenden mit Behinderungen den Zugang zur Hochschulbildung zu erleichtern. Petrolesi leitete dort Theaterworkshops, in denen die Jugendlichen ihre Persönlichkeiten, ihre Lebensgeschichten und ihre Identität in das Stück einfließen ließen. Sie beteiligten sich an dem gesamten Schaffensprozess, Seite an Seite mit Theaterprofis.
Das Stück hinterfragt den Platz dieser jungen Menschen in der Gesellschaft, die sie umgibt. Der Dekor: eine Art Agora, in dem alle ihren Platz haben und das Wort von einem Menschen zum nächsten wandert. „Was einen Menschen ausmacht, sind in erster Linie seine Vorlieben. Seine Erinnerungen oder seine Wünsche. Auf keinen Fall seine Behinderung“, heißt es in der Veranstaltungsbeschreibung.
Am Freitag, 6. September, um 20 Uhr. Auf Französisch.
ännie, bastard & 1 prinz
Am Samstag gibt es drei auf einen Streich: „ännie, bastard & 1 prinz“ ist ein deutschsprachiger Theaterabend mit Stücken von Anouk Wagener, Kaspar Locher und Tina Keserović.
Den Anfang macht Keserović mit „Migrant Migräne“: einem Hip-Hop-Kammerspiel über Migration und Identität. Es folgen zwei Monologe. Zuerst ist Kaspar Locher mit „Der Prinz der Tränen“ an der Reihe: Die Welt eines Prinzen gerät ins Wanken, als er beginnt, seine Identität zu analysieren. Nach Locher tritt Anouk Wagener mit „Ich, Ännie“ auf. In dem Werk von Thomas Melle, das 2017 im Kasemattentheater Premiere feierte, geht es um ein vermisstes Mädchen – Ännie, die mit 16 verschwand.
Am Samstag, 7. September, um 19 Uhr.
Nos Petits Penchants
Was ist Glück? Und wie erreichen wir es? Diesen Fragen gehen die Marionetten Victor, Ptolémée, Alfred, Rosie und Balthazar im Puppentheater „Nos Petits Penchants“ der Kompanie „Des Fourmis dans la lanterne“ nach.
In dem Puppentheater, das ohne Worte auskommt und sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richtet, werden große Themen verhandelt: Was hat Glück mit dem Bild zu tun, das man von sich selbst zeichnet? Worin liegt der Unterschied zwischen einem ernst gemeinten Wunsch und sozialen Anweisungen? Empfindet jeder Mensch Glück anders? Und ist ein erfolgreiches Leben zwangsläufig auch ein glückliches? Das Puppentheater regt zudem dazu an, sich über das Glücklichsein als unausgesprochene gesellschaftliche Erwartung Gedanken zu machen.
Am Sonntag, 8. September, um 11 Uhr (luxemburgische Einführung in das Stück) und um 16 Uhr (französische Einführung in das Stück).
- Petition fordert Abschaffung der Hausaufgaben - 24. November 2024.
- Es weihnachtet sehr: „Winterlights“ haben offiziell eröffnet - 22. November 2024.
- Die Kanzlerpartei klatscht, die Kanzlerpartei zweifelt - 22. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos