Interview / Alain Massen: „50 Prozent der Eltern haben kein Sprachrohr“
Seit fast drei Jahren ist Alain Massen Präsident der damals neu gegründeten Nationalen Elternvertretung, deren Mandat nun zu Ende geht. Im Interview verrät der Vater von vier Kindern, dass die Aufgabe dieses Gremiums nicht nur darin besteht, die Interessen der Eltern durchzusetzen, und gewährt einen Einblick in seine Vision einer offenen Schule.
Sie sind Vater von vier Kindern und freiberuflicher Psychotherapeut. Ist das das perfekte Profil, um als Präsident der Nationalen Elternvereinigung etwas zu bewegen?
Was mich vielleicht etwas prädestiniert, ist die Tatsache, dass ich vier Kinder habe, die in den unterschiedlichen Schulsystemen eingeschult sind: Grundschule, Sekundarschule und Kompetenzzentrum (früher: „Ediff“.; Anm. d. Red.). Ich habe also als Vater Kontakt zu diesen sehr unterschiedlichen Systemen. Auch habe ich als Psychotherapeut gelernt, den Menschen zuzuhören. Das ist sehr wichtig, da es im Bereich der Schule sehr viele Partner gibt. Das sind die Schüler, die Lehrer, die Eltern, das Bildungsministerium, die Gemeinden. Innerhalb der Schulen gibt es informelle Hierarchien und unterschiedliche Akteure, auch beim Personal.
Ich verteidige also nicht nur die Interessen der Eltern. Darum geht es nicht hauptsächlich.Präsident der Nationalen Elternvertretung
Jeder betrachtet die Dinge durch seine eigene Brille, aus seiner Ecke. Und hier kommt die Psychologie ins Spiel. Es geht also nicht darum, dass jemand seinen eigenen Standpunkt durchsetzt. Dies gilt für alle Akteure und eben auch für die Eltern. Ich verteidige also nicht nur die Interessen der Eltern. Darum geht es nicht hauptsächlich. Als Nationale Elternvertretung setzen wir uns primär dafür ein, dass unsere Kinder die bestmögliche Erziehung und schulische Ausbildung bekommen können. Dieses Ziel steht über allem anderen. Das erreichen wir nur, wenn wir alle gemeinsam mit anpacken und unsere Perspektive mit jener der anderen vermischen.
Sie sind also kein Lobbyist, sondern eher ein Vermittler?
Ja, absolut. Wir müssen die verschiedenen Enden zusammenkriegen. Ich finde nicht, dass unsere Arbeit als Nationale Elternvertreter eine lobbyistische sein sollte. Das ist nicht mein Stil. Wir suchen einen konstruktiven Dialog, in dem Ängste, Sorgen und Meinungen mit dem anderen Partner gemeinsam diskutiert werden können. Dabei sollen Denkanstöße und Prozesse angeregt werden. Es ist nicht die Rolle der Eltern, das System zu reformieren oder Lösungen zu finden. Dafür gibt es Fachleute. Unsere Rolle ist es, jene Fachleute mit Input zu füttern.
Wir haben mittlerweile erreicht, dass wir bei den Instanzen ernst genommen werdenPräsident der Nationalen Elternvertretung
Werden Sie denn überhaupt als Nationale Elternvertretung wahrgenommen?
Die Nationale Elternvertretung ist ja etwas ganz Neues. Sie hat ihre Arbeit erst Anfang 2020, kurz vor dem ersten Lockdown, aufgenommen. Wir mussten unseren Platz erst mal finden. Das muss man sich schon selber erarbeiten. Wir haben mittlerweile erreicht, dass wir bei den Instanzen ernst genommen werden. Sie wissen nun, dass wir unseren konstruktiven Beitrag leisten wollen. Die Covid-Pandemie, die sich über mehr als die Hälfte unserer Mandatsperiode erstreckte, erschwerte den anfänglichen Kontakt mit den Instanzen enorm. In neue Arbeitsgruppen des Bildungsministeriums, wie zum Beispiel zur Hausaufgabenhilfe oder zum e-Bichelchen, wurden wir sofort eingeladen. Vor zwei Jahren hätte niemand an uns gedacht.
Wie sieht es denn mit dem Kontakt zur Basis, den Eltern, aus?
Da hapert es noch. Das Problem ist der Datenschutz. Wir sollen die Eltern vertreten, haben aber kaum Möglichkeiten, uns Zugang zu ihnen zu verschaffen. Eine lokale Elternvertretung in einer Gemeinde verfügt über keinerlei Daten der Eltern. Wir können diese nicht anschreiben. Wir müssen beispielsweise die Gemeinde oder den Schulpräsidenten darum bitten, einen bestimmten Brief über die Lehrerschaft an die Eltern weiterzuleiten. Das ist nicht selbstverständlich.
Sie müssen also improvisieren?
Ja, wir müssen kreative Wege finden. Schließlich vertreten wir rund 200.000 Eltern mit genauso vielen unterschiedlichen Meinungen. Deshalb müssen wir uns darum bemühen, Wege zu finden, wie wir diese Stimmen mit einbeziehen können. Dies wird die große Herausforderung der nächsten Mandatsperiode sein. Im vergangenen Herbst haben wir angefangen, Treffpunkte in Form von Workshops mit Eltern oder zumindest mal mit lokalen Elternvertretern zu organisieren.
Wie engagiert sind denn eigentlich die Eltern?
Die Motivation der Eltern, sich zu engagieren, ist zurzeit nicht sehr groß. Uns fällt auf, dass es immer die Gleichen sind, die sich als Elternvertreter aufstellen lassen und sich einbringen wollen. Das ist eine Minderheit. Von der Mehrheit hört man nicht sehr viel. Dies kann mehrere Gründe haben. Wir sehen auch, dass es eher Eltern mit höheren Diplomen sind, sowie jene, die gut integriert sind, die sich einbringen. Jene aus niedrigeren Einkommensklassen melden sich nicht, um Elternvertreter zu werden. Rund 50 Prozent der Eltern haben kein Sprachrohr. Das ist ein Problem für mich. Unsere Rolle ist es deshalb auch, uns für diese Eltern einzusetzen, damit deren Stimme nicht verloren geht.
Das sind ja oft jene Eltern, deren Kinder es aufgrund der sprachlichen Situation in der Schule nicht leicht haben …
Wir haben die spezielle Situation in Luxemburg, dass sehr viele Kinder zu Hause weder mit der deutschen, noch der luxemburgischen Sprache aufwachsen. Sowohl die soziale Herkunft als auch die Sprachen haben hierzulande einen großen Einfluss auf den Schulerfolg eines Kindes. Man muss also alles tun, – und dies fällt in den schulischen Bereich –, um die sprachlichen Schwierigkeiten aufzufangen. Dazu gehört auch eine von uns stets geforderte Alternative, wie die nun endlich lancierte Alphabetisierung auf Französisch. Denn es geht auch um die anderen Fächer wie Mathematik oder später Biologie oder Chemie. Die Schüler kommen da nicht mit, nur wegen der Sprache. Das ist die eigentliche Ungleichheit. Ich finde auch, dass man zudem Englisch als weitere Alphabetisierungssprache in den normalen öffentlichen Schulen anbieten und nicht noch zwanzig Jahre damit warten sollte.
In den öffentlichen internationalen Schulen wird dies ja bereits angeboten.
Das ist aber nicht die Lösung. Denn damit fördern wir lediglich die Einteilung in Gettos. Diese Möglichkeit verschiedener Alphabetisierungen sollte in allen Schulen, zumindest in den größeren Gemeinden, angeboten werden. Und das Luxemburgische sollte ebenfalls seinen Stellenwert haben. Man könnte es zum Beispiel im Sport oder im Zeichnen als Unterrichtssprache anbieten.
Eine tiefgreifende Sprachreform in den Schulen ist also notwendig?
Absolut. Wenn wir das jetzt wieder verschlafen, so wie wir es die letzten 30 Jahre getan haben, spitzt sich die Problematik weiter zu. Ich verstehe ja, dass nicht genug Lehrer da sind oder diese die Alphabetisierung lieber auf Deutsch machen wollen. Das ist ja völlig in Ordnung. Aber die Politik sollte das Problem angehen. Der Beruf des Lehrers sollte attraktiver gestaltet werden, mit etwa einer Wahlmöglichkeit zwischen den verschiedenen Sprachen. Zudem sollte die Ausbildung angepasst werden. Das ist auch keine Frage des Budgets. Der Luxemburger Staat gibt bereits jetzt sehr viel Geld für sein Bildungssystem aus. Diese Mittel kommen aber nur bei 50 Prozent der Schüler an, wenn wir nicht genügend tun, um die Ungleichheiten im System aufzufangen.
Eltern stellen viel mehr als früher den Lehrer in seinem Handeln als Autoritätsperson infrage. Es gibt gegenseitiges Misstrauen. Wir müssen also die Schulen mehr öffnen.Präsident der Nationalen Elternvertretung
Sprachen sind aber nur ein Problem. Das andere ist die fehlende Partizipation der Eltern.
Ja, wir müssen die Partizipation fördern. Zudem habe ich in den letzten Jahren mitbekommen, wie sich Eltern und Lehrer immer weiter auseinanderleben. Eltern stellen viel mehr als früher den Lehrer in seinem Handeln als Autoritätsperson infrage. Es gibt gegenseitiges Misstrauen. Wir müssen also die Schulen mehr öffnen. Wieso kann die Schule nicht auch ein Lebensraum sein? Wieso ist es den Eltern nicht erlaubt, in die Schule hineinzugehen? Klar, es gibt natürlich Bedenken wegen der Sicherheit der Schüler. Es sind keine einfachen Lösungen. Aber in Düdelingen gibt es zum Beispiel ein Elterncafé in der Schule. Die Eltern können ihre Kinder abgeben und dort gemeinsam mit anderen Eltern und Lehrern einen Kaffee trinken.
Würde dies die Eltern denn interessieren?
Nicht jene, die ihre Kinder mit dem Auto in die Schule fahren. (lacht) Die haben keine Zeit. Aber viele andere Eltern würden sich dies wünschen. Wieso werden die Schulen während der ganzen Sommerferien geschlossen? Man könnte doch auch Geburtstage dort feiern oder andere gemeinsame Aktivitäten dort anbieten. In meiner Vision ist die Schule ein Begegnungsort.
Die Nationale Elternvertretung
Die Nationale Elternvertretung wird jeweils für drei Jahre festgelegt. Aktuell wurden bereits die neuen, rund 1.200 lokalen Vertreter gewählt. In einer zweiten Etappe im Januar 2023 gehen rund 60 von ihnen als sektorielle Vertreter hervor. Diese wiederum werden Ende Februar zwölf von ihnen in die nationale Elternvertretung wählen. Der aktuelle Präsident stellte gegenüber dem Tageblatt seine Bereitschaft in Aussicht, für ein weiteres Mandat zur Verfügung zu stehen. Nach dem Aufbau des Gremiums in den ersten drei Jahren sei es nun wichtig, diese Arbeit mit einer gewissen Kontinuität weiterzuführen.
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Mit 4 Kindern trägt man nichts zum Schutze des Klimas bei. Man hat das Grundproblem nicht begriffen!