EU-Parlament / Alles oder nichts: Abgeordnete entscheiden über Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin
In Straßburg hat die Alles-oder-nichts-Woche begonnen. Nie zuvor war die mächtigste Frau der Welt so schwach: Wenn Ursula von der Leyen nicht auf Anhieb 361 von 720 Stimmen für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin bekommt, ist ihre Karriere Geschichte, rutscht die EU in die Krise.
Eigentlich klappen Kommission, Rat und Parlament jeden August in Brüssel und Straßburg die Bürgersteige hoch, wenn die EU Urlaubspause macht. Eigentlich stehen keinerlei Treffen an. Und eigentlich ist die zweite Amtszeit für Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin längst entschieden. Sie braucht 361 Stimmen im 720-köpfigen Parlament. Die Plattform aus Christdemokraten (188 Sitze), Sozialdemokraten (136) und Liberalen (77) hat schon mehr als genug dafür, vor allem wenn noch etliche aus den Reihen der Grünen (53) und EKR-Rechtspopulisten (78) dazukommen. Auch wer schwach in Kopfrechnen ist, kann die satte Mehrheit erkennen. Doch bei der geheimen Abstimmung am Donnerstag kollidiert das Kopfrechnen 720-mal mit dem individuellen Bauchgefühl. Und dann kann sich die EU der eigentlich hochgeklappten Bürgersteige im August in ein krisengeschütteltes Tollhaus verwandeln.
Dienstag und Mittwoch gibt es bereits die ersten Abstimmungen im neu konstituierten Europaparlament. Wer es auf Anhieb nicht schafft, als Parlamentspräsidentin, Vizepräsident oder Quästor die erforderliche Mehrheit zu bekommen, kann bis zu vier Anläufe unternehmen. Für von der Leyen gilt das nicht. Sie hat nur einen Versuch. Geht der schief, muss sie ihre Koffer packen. Dann sind die Staats- und Regierungschefs in der Pflicht, innerhalb von 30 Tagen einen neuen Vorschlag aus dem Hut zu zaubern, für den dann 361 Ja-Stimmen im Parlament zusammenkommen.
Beim Start in ihre erste Amtszeit war von der Leyen bereits haarscharf am Aus vorbeigeschrammt. Damals hatten ihr viele Parlamentarier die Stimme verweigert, weil sie vorher angekündigt hatten, nur eine Persönlichkeit zu wählen, die in den Europawahlen mit einer Spitzenkandidatur vor die Menschen getreten war. So wie der damals siegreiche EVP-Politiker Manfred Weber. Doch der hatte im Rat der Staats- und Regierungschefs keine Mehrheit bekommen und von der Leyen als Kompromisslösung weichen müssen.
Dieses Argument fällt dieses Mal weg. Und so wirbt Weber denn nun auch nachdrücklich bei den Abgeordneten dafür, ihrem Eintreten für das Spitzenkandidatenprinzip den logischen zweiten Schritt folgen zu lassen und sie zu wählen. Doch die Abgeordneten wollen zugleich den Augenblick größtmöglichen Einflusses auf die Grundzüge der EU-Politik in den nächsten fünf Jahren nutzen, um möglichst viel der eigenen Ideen realisiert zu sehen. Und vielen geht es hinter vorgehaltener Hand auch mächtig auf den Keks, dass Weber in den Verhandlungen offenbar mit dem Anspruch eines thematischen Durchmarsches für seine Europäische Volkspartei auftritt. Sie können ihre Reflexe kaum unterdrücken, ihn spüren zu lassen, dass die EVP eben weit entfernt ist von der absoluten Mehrheit und reichlich Unterstützung von anderen braucht.
Auch eine Frage persönlicher Sympathie
Noch viel größer ist jedoch das Problem der sich ausschließenden Gegensätze. Die eigenen Christdemokraten erwarten als Gegenleistung für ihre Unterstützung die Ankündigung von der Leyens, wesentliche Teile des Green Deals zur ambitionierten Klimaschutzgesetzgebung auf den Prüfstand zu stellen. Wenn sie das in der gewünschten Klarheit sagt, sind ihr viele Stimmen der Christdemokraten sicher, verliert sie auf der anderen Seite jedoch die der Grünen. Sagt sie den Freien Demokraten zu, das Verbrenner-Aus noch mal aufzubohren, wie es zu den Bedingungen der Renew-Abgeordneten gehört, kann sie die Stimmen vieler Sozialdemokraten abschreiben, die der Grünen sowieso. Und wenn sie erkennbar auf harte Forderungen der Rechtspopulisten in Migrationsfragen eingeht, gefährdet sie gleichzeitig die Unterstützung sowohl von Sozialdemokraten als auch von Grünen und Liberalen.
Ob der einzelne Abgeordnete am Donnerstag hinter dem Vorhang sich in der geheimen Abstimmung sein Kreuz bei von der Leyen macht oder nicht, hängt auch mit persönlicher Sympathie oder Antipathie zusammen. In ihrer ersten Amtszeit hat von der Leyen zwar viel Achtung, Anerkennung, Respekt und Autorität bekommen – sich dabei aber nicht sehr viele Freunde gemacht. Die einen verübeln ihr das Eintreten für Israel im eskalierenden Nahostkrieg, die anderen ihr Zögern und ihre Beweglichkeit gegenüber der Rechtsstaatsverstöße in Ungarn. Wieder andere misstrauen ihren Absprachen bei der Impfstoffbeschaffung oder dem Schulterschluss mit den USA und der Ukraine. „Unwählbar“, sagen nicht nur die Linken, sondern auch einzelne Landesgruppen in den vier Parteien der Mitte. Und dann spielen sehr persönliche Enttäuschungen mit, wenn es mit dem erhofften Sitz oder gar Vorsitz im Wunsch-Ausschuss nicht klappt. Das wird zwar erst am Freitag und in der folgenden Woche in Angriff genommen, sich aber zum Zeitpunkt der von-der-Leyen-Abstimmung schon deutlich abzeichnen.
Gewinne auf der Rechten, Verluste auf der Linken
Geklärt hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits, ob die Brandmauer zum rechten Rand noch steht. Auch die Rechtspopulisten beanspruchen Sitze im Parlamentspräsidium. Bei Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen gibt es dazu jedoch eine starke Ablehnung: Wer im Wahlkampf angekündigt habe, die EU-Institutionen schwächen zu wollen, dürfe nicht anschließend eines dieser Organe repräsentieren, lautet die Überzeugung in der linken Mitte. In der rechten Mitte erkennen die Christdemokraten jedoch durchaus bürgerliche Züge in der Regierung und im Abstimmungsverhalten der italienischen Rechtspopulistin Giorgia Meloni. Wenn gegen den Widerstand von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen Dienstag und Mittwoch Rechtspopulisten Vizepräsidenten werden, wächst natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass von der Leyen zwar von rechts Stimmen bekommt, gleichzeitig jedoch mehr auf der linken Seite verliert.
Es ist die Woche der größten Macht im Europaparlament, zugleich aber auch die des Alles-oder-nichts-Risikos.
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