Platte(n) der Woche / Alles verwackelt, wie sieht das denn aus? Auf ihren neuen Platten verarbeiten Die Nerven, Love A und Fjørt eine kaputte Welt
„Und ich dachte irgendwie/In Europa stirbt man nie“: Ihr selbstbetiteltes Album eröffnen Die Nerven mit einem Übersong, der nicht nur wegen seines Refrains ein klarer Anwärter auf den Song-des-Jahres-Titel ist. „Europa“ steht dabei quasi metonymisch für drei deutschsprachige Platten zwischen Indie, Punk und Hardcore, die die schiefe Weltlage zu (in zwei von drei Fällen) unverzichtbaren Meisterwerken verdichten.
„Immer steil bergab/Immer steil bergab/Wie der Hase läuft ist dem Fuchs egal/Kurz vorm Ziel fängt dich dann dieses Leben ab/Boxt dich hart ins Gesicht/Zieht dich einfach ab.“ „Während ich verdammte Zeilen auf meinem Rechner neu sortiere/Werden in Nordkorea Menschen weil sie denken deportiert/ Hunderttausend in den Minen damit der Staat auch funktioniert/ KZs nie aus der Mode/ Das wisst ihr, das weiß ich/Ich tue gar nichts/Weil es gemütlich ist.“ „Eine Kindheit, eine Jugend/Ein Turm aus Elfenbein/Alle sagen immer wieder/So wird’s nie wieder sein/Lernen aus den Fehlern/Lernen aus dem Leid/So wird’s nie wieder sein/Und ich dachte irgendwie/In Europa stirbt man nie.“
Wer sich die neuen Platten von Die Nerven, Fjørt und Love A hintereinander anhört, dem wird ein Gesellschaftsspiegel vorgehalten, der vor lauter Luzidität irgendwann zu zerbersten droht: Love As „Meisenstaat“, das selbstbetitelte „Die Nerven“ und Fjørts „nichts“ stellen ein pechschwarzes Kaleidoskop aus legitimem Pessimismus, angestauter Wut und Verzweiflung über den Zustand der Welt dar – was die hier zitierten Auszüge aus Love As „Will und kann nicht mehr“, Fjørts „kolt“ und Die Nervens „Europa“ belegen.
„Alles verwackelt, wie sieht das denn aus“, sprechsingt Fjørt-Sänger und Gitarrist Chris Hell auf „nichts“, dem titelgebenden Opener des vierten Albums der Aachener. Verwackelt und schief ist die Welt geworden, einen „schwarzen Gürtel im Vermeiden“ dürfte allerdings keines der Bandmitglieder besitzen – die neuen Platten von Die Nerven, Fjørt und Love A sind messerscharf, klangliche Verzerrungen und Verwackelungen dienen allemal einer mimetischen Darstellung einer Wirklichkeit, die uns zunehmend wacklig, surreal vorkommt und der die drei Bands tapfer ins Auge starren.
Denn die rezenten Platten von Die Nerven, Fjørt, Love A und den bereits besprochenen Muff Potter – also allesamt deutschsprachige Bands, die man im weitesten Sinne des Begriffs im Punk einordnen kann –, zeugen von einer wahnsinnig lebendigen Szene, an der die letzten Jahre nicht unbemerkt vorbeigezogen sind.
Es sind wütende, aufgebrachte Meilensteine, die den Klimawandel und sein Leugner, die Pandemie und ihre Verschwörungstheoretiker, das langsame Dahinsiechen demokratischer Werte, Billigfleischskandale und neoliberalen Neusprech thematisieren. Es sind Meilensteine, auf denen das Ungestüme, Wilde der Anfangstage dieser Bands mit der kompositorischen Finesse einer ästhetischen Weiterentwicklung harmonieren – ganz so, als habe das Weltgeschehen all diese Bands zum schnellen Erwachsenwerden gezwungen.
Das Beste auf dem (Platten-)Teller liegen lassen
So beginnt die selbstbetitelte vierte Platte von Die Nerven mit „Europa“, einem Song, der wie für den Einfall Russlands in die Ukraine komponiert scheint – dabei aber schon vor dem Krieg geschrieben wurde. Nur von einer akustischen Gitarre begleitet singt Max Rieger die hier bereits zitierten Zeilen, bevor sich der Track in einen Brecher aus Indierock- und Hardcore-Elementen verwandelt, in dem von der knarzenden, fiesen, tanzbaren Basslinie über die beiden kontrastierenden Gesangsstimmen bis hin zu den Gitarrenriffs einfach alles stimmt. Besser kann’s eigentlich nicht werden – und trotzdem halten Die Nerven das hohe Niveau über diese zehn Songs und 37 Minuten kurze Platte.
Dem Tod, „ein Meister aus Deutschland“, wie man seit Paul Celan weiß, begegnen wir auch auf dem darauffolgenden „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“, einer Auseinandersetzung mit einem Heimatland, das stets riskiert, von seiner dunklen Vergangenheit eingeholt zu werden. Der treibende Indierock dieses Tracks dient ein wenig später auf „Alles reguliert sich selbst“ einer globalen Abrechnung mit dem Neoliberalismus und einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob man in diesem System, das auch unseren Sprachgebrauch konditioniert, überhaupt noch kritisch sein kann: „Wer kontrolliert die Sprache, kuratiert Realität.“
Diese Band, die von sich selbst behauptet, vor der neuen Platte kaum bis nie geprobt zu haben, zeigt sich auf ihrem vierten Album sowohl erwachsener, facettenreicher als auch durchdachter als bisher: Mit ihrer selbstbetitelten Platte machen Die Nerven so manch alteingesessenen deutschen Indie-Rock-Bands ernsthafte Konkurrenz: So können es die eleganteren Tracks in ihrer kompositorischen Strahlkraft wie in ihrer vielschichtigen Produktion durchaus mit Dirk von Lowtzows Tocotronic aufnehmen.
Spannend dabei ist, dass sich selbst in den erhabenen Balladen „Keine Bewegung“ und „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ noch das Ungestüme manifestiert – ganz gleich, ob es die dissonanten Sonic-Youth-Gitarren von „Keine Bewegung“ oder die R.E.M.-Referenz („Es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen“) auf dem Influencer-Song sind. „Der Erde gleich“ verdichtet auf schizophrene Art beide Klangwelten: Der Track beginnt fast wie eine Indie-Rock-Ballade von Kante, bevor er sich, einem Rhythmuswechsel sei Dank, in einen treibenden Hardcoresong mit hymnisch-kathartischem Finale verwandelt.
Auch im letzten Drittel ebbt die Platte nicht ab: „15 Sekunden“ ist Hardcore vom Feinsten, das schlicht betitelte „Ein Tag“ trumpft mit verhallten Shoegaze-Gitarren und erinnert ein wenig an die mittlerweile in Vergessenheit geratenen Marr, das abschließende „180°“ ist mit seinen schwelgerischen Geigen, seinen einsamen Gitarrenakkorden und seinen metaphysischen Texten – „Der Tod läuft nicht gut auf Instagram […]/ Der Tod ist ein Meister der Zahlen/Will ein Stück vom Kuchen haben“ der perfekte Schlusspunkt einer brillant konzipierten Platte, dem jetzt schon ein Eintrag in die Bestenlisten am Ende des Jahres gesichert sein dürfte.
Dass die Platte sowohl in der Visions als auch im Musikexpress – zwei Musikzeitschriften mit sehr unterschiedlichen stilistischen und musikästhetischen Akzenten – als Platte des Monats auserkoren wurde, mag vielleicht Anekdotencharakter haben, sagt in diesem Fall aber doch so einiges aus.
(K)ein schwarzer Gürtel im Vermeiden
Genauso meisterhaft, wenn auch (etwas) weniger fokussiert, ist Fjørts vierte Platte, mit der die Aachener nicht weniger als das deutschsprachige Äquivalent zu La Disputes bahnbrechendem „Wildlife“ geschrieben haben. „nichts“ heißt diese Platte ganz bescheiden, vielleicht weil „Couleur“ als Plattentitel schon für den Vorgänger dienen musste – denn farbiger war Fjørt bei aller Wut noch nie. Alle 13 Songtitel verzichten dabei, wie auch die dazugehörigen Lyrics, auf Groß- und Kleinschreibung, ganz als würde sich der titelgebende Nihilismus, der auch den Minimalismus des Covers prägt, in der sprachlichen Gestaltung spiegeln – denn wozu noch Rechtschreibungsregeln einhalten, wenn die Welt eh auseinanderfällt?
Apropos Artwork: Das Kabelknäuel auf dem Cover ist Programm – denn Fjørt ist nicht da, um den Knoten zu lösen, sondern vielmehr, um diesen zu vertonen. Der titelgebende Opener baut sich so langsam auf wie ein störrisches Postrockgemälde, das Verweigerung allegorisieren möchte, die Gitarren malen nach und nach eine bedrohliche Stimmung, Chris Hell stellt seine fatalistischen Texte mit einer Mischung aus Geschrei und Sprechgesang, die ein wenig an La-Dispute-Sänger Jordan Dreyer erinnert, vor, bis irgendwann ein wunderschönes Falsetto aus dem, ja, Nichts auftaucht – „zeug in den adern/komm mach mich taub“ – um anschließend so schnell wieder dem Sprechgeschrei zu weichen, dass man sich für einen Moment fragt, ob man sich diese Melodie nur eingebildet hat. Zwei Minuten später singt Hell erneut, diesmal dunkler und mit druckvoller Stimme: „und wenn wir nicht stark sind/und wenn wir nicht dies sind/und wenn wir nicht das sind/und wenn wir nicht wahr sind/dann tu so als ob.“
Das anschließende „sfspc“ beginnt stürmisch, nimmt dann aber Wut und Geschwindigkeit raus, um in ein A-Capella-Segment mit sanftem Gesangpart zu münden, „salz“ ist so wütend, dass es fast in eine Setlist von Converge reinpassen würde (wäre dies eine englischsprachige Rezension, könnte ich mit dem Wortspiel „all Hell breaks loose“ blödeln), „fevel“ ist von melancholischen Postrockgitarren geprägt, die das gesamte Werk immer wieder säumen – und „schrot“ ist so miesepetrig wie jemand, der verkatert zum Weltuntergang erwacht. Auf „nichts“ fängt Fjørt quasi enzyklopädisch die Schönheit und Gräuel, zu denen der Mensch fähig ist, ein – und wird nach dem facettenreichen Auftakt ab dem selbstkritischen „kolt“ immer experimenteller.
Denn auch die eigenen Hausregeln hat Fjørt mit der guten Laune (falls es die je gab) über Bord geworfen: „nichts“ ist ein harter Brocken aus Wut und Geschrei – und trotzdem war die Band nie vielseitiger: Mal fühlt man sich an Escapado und La Dispute, mal an die Japaner von envy oder den dunklen Postrock von We Lost The Sea erinnert, hier webt die Band Knabengesang („lakk“, das aufgrund seiner Vielfalt zerfahren wirken könnte, in Wahrheit aber eindrucksvoll davon zeugt, was diese Band alles kann), dort eine Art Kirchenchor („lod“, das die Platte mit seiner Kritik an religiösem Fanatismus perfekt beendet) in das komplexe Klanggeflecht dieser spannenden, detailverliebten Platte ein – fast fühlt es sich wie ein Spoiler an, hier preiszugeben, was sich Fjørt alles ausgedacht hat.
Denn wo bei anderen Hardcorebands wie den Amerikanern von Pianos Become The Teeth die Einkehr von Melodie urplötzlich auch der Wut ein Ende setzte und eine stilistische 180-Grad-Wende einläutete, lässt Fjørt eben nur hie und da Harmonien zu. Das passt besser zu ihrem Weltbild – und sorgt für eine stets spannungsgeladene Platte.
Dass die Verzweiflung, das Entsetzen und die Aufgebrachtheit trotz der meist wuterzürnten Texte nicht überhandnehmen, liegt daran, dass es auf fast allen Songs Mitsingmelodien gibt, sei es nur durch die Backing Vocals, die sogar das unglaublich wütende „salz“ ein klein wenig melodisch auflockern. Dieses neugewonnene Liebäugeln mit der Melodie ist auf eine sehr vielfältige Art eingesetzt worden: Wo bei Pianos Become The Teeth nun Kyle Durfeys (schöne) Gesangstimme das Klangbild dominiert, wird hier mit dem Geschrei auf sehr unterschiedliche Art und Weise gebrochen, sodass man ruhig mit einem Songtitel dieser frankophilen Band (mit „Couleur“ und „D’accord“ tragen zwei von vier Platten französische Namen) schlussfolgern kann: Fjørt dabei zuzuhören, wie sie mit der zeitgenössischen Welt klanglich abrechnet, ist das reinste „bonheur“.
Die haben definitiv eine Meise
Wer auf seiner neuen Platte zwei Songs in die Tracklist aufnimmt, deren Titel sich in ihrem Pessimismus so sehr spiegeln, dass die Zuhörer*innen schon beim Lesen quasi in einer Endlosschleife aus Lebensmüdigkeit versinken, zeigt sich definitiv mit Blurs damals in einem Albumtitel kondensierten Gesellschaftsanalyse einverstanden: „Modern Life Is Rubbish“. Wer diese beiden Songs dann auch noch als Vorabsingles zum Album veröffentlicht – auf „Will und kann nicht mehr“ folgte konsequenterweise „Kann und will nicht mehr“ –, zeigt der Welt überdeutlich den Stinkefinger.
Will man wissen, was genau Mechenbier an der zeitgenössischen Welt so verzweifeln lässt, muss man nur genau hinhören, um zu erfahren, dass die Antwort ziemlich klar ist: Vom Neusprech der heutigen Arbeits-, Dating- und Freizeitwelt (der Sänger erwähnt „Onlinedate im Teleshop“, „Trendy Food vom Lifestyleblogger“ und den „After-Work im Park“) bis hin zum „Klimawandel“ und der Vogel-Strauß-Attitüde seiner Mitmenschen („Nie nach unten sehen, weiterfahren/Achterbahn“) wird auf „Meisenstaat“ ein komplettes, kulturpessimistisches Porträt menschlichen Versagens gezeichnet: „Jeder lebt sein Leben, aber keiner kommt mehr klar.“
Auf „Meisenstaat“ hat sich Jörkk Mechenbier vom Geschichtenerzähler zum introspektiven, autofiktionalen Betrachter einer kaputten Welt, die von seinem lyrischen Ich gefiltert wird, entwickelt, seine Stimme klingt zudem dunkler, beherrschter, im Gegensatz zu früheren Alben überschlägt sie sich weniger.
Damit bewegen sich die Trierer thematisch wie stimmlich etwas weiter weg vom Turbostaat-Einfluss, um sich in den Post-New-Wave-Gewässern freizuschwimmen: Die Songs von „Meisenstaat“ pendeln zwischen wütendem Hardcore (der Titelsong, in dem der knarzende Bass und das Schlagzeug das Klangbild der Band gekonnt erweitern) und mit verhallten Gitarren angetriebenen Nummern wie „Alles ist einfach“, „Analog ist besser“ oder „Genau genommen gut gemeint“, die ihren 80er-The-Cure-Vibe mit den wie gehabt so präzisen wie lakonischen Texten illustrieren („Gott hat einen Bart/Nur Güte hat er nicht“).
Diese Entwicklung ergibt durchaus Sinn, zumal die Mischung aus schmissigem Punk und New-Wave-Nummern, wie man sie auf vielen Songs des Vorgängeralbums kannte, einfach funktioniert. Irgendwie vermisst man die Lebensfragmente vom Vorgängeralbum (siehe „Nachbarn II“, „Weder noch“, „War klar“) trotzdem ein wenig, was vielleicht auch daran liegt, dass auf „Meisenstaat“ die qualitative Kluft zwischen den Songs größer ist: Die Ausnahmetracks wie „Will und kann nicht mehr“ oder „Schlucken oder spucken“ sind noch geschliffener, die Melodien noch eingängiger, dazwischen wirken vor allem die paar langsameren Nummern („Klimawandel“) oder solche, die die Idiosynkrasien der Band zugunsten einer noch größeren Verankerung in dem Indie-Sound der 80er opfern, ein bisschen wie Füllmaterial. Da wirkt Mechenbiers folgender Vers fast schon wie eine kritisch-ironische Selbstkritik: „Am besten bleibt mein seinen eigenen Fehlern treu.“
„Ramponierte Leben voller Gier/Die Hoffnung stirbt, zuletzt sterben auch wir“, schreit Jörkk Mechenbier auf „Schlucken oder spucken“, dem letzten Song von „Meisenstaat“. „wertes grand hotel van cleef/ich würd so hellauf gerne texten/von ner hoffnung die mich trägt/ich weiß das zieht“, antwortet darauf Chris Hell, der hier sein Plattenlabel direkt anspricht – und die Ansprüche auf kommerziell verwertbaren Optimismus enttäuschen muss. „Alles ist einfach zu viel“, singt Mechenbier auf dem bewusst elliptisch-unvollständig betitelten „Alles ist einfach“, „Es ist zu viel“ singt auch Julian Knoth auf dem Hardcore-Gewitter „15 Sekunden“.
Ob diese drei Platten voller Wut und Verzweiflung hoffnungsspendend sind oder lediglich Verzweiflung vertonen, ist wohl Ansichtssache und kann auch je nach Tageslaune anderes ausgelegt werden. Sicher ist jedoch, dass diese Alben den bestmöglichen Soundtrack durch das ausweglos erscheinende Labyrinth der heutigen Welt bieten.
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