Kleines Land, großer Mut / Als Luxemburger 1942 den Nazi-Besatzern die Stirn boten – und dafür büßen mussten
An vielen Orten des Landes, vor allem in Wiltz oder in Schifflingen-Esch, wird heute und an den nächsten Tagen an den 31. August 1942 erinnert. Heute vor genau 80 Jahren bot Luxemburg dem Nazi-Besatzer die Stirn. Es war ein klares Nein gegen Fremdherrschaft. Es war ein unmissverständliches Bekenntnis für Freiheit, das Folgen hatte und dem über 20 Todesurteile folgten. Mit Jérôme Courtoy, einem jungen Historiker aus dem nationalen Resistenzmuseum in Esch, haben wir versucht, die Ereignisse einzuordnen. 80 Jahre später gewinnt das Bild zusehends an Klarheit.
Tageblatt: Wie ist dieses Auflehnen vor 80 Jahren einzuschätzen? Was waren damals die Folgen für Bevölkerung und Besatzer?
Jérôme Courtoy: Ich glaube, dass die Luxemburger damals nicht mit dieser heftigen Reaktion gerechnet haben. Das bestätigen auch Zeitzeugen. Man rechnete vielleicht mit Verhaftungen und Strafen, aber nicht mit dieser Brutalität. Man dachte vor allem nicht an Todesstrafen und an Zwangsumsiedlung.
Die Nazis waren ihrerseits auch nicht davon ausgegangen, dass es zu solch massiven Streikaktionen kommen könnte, und falls doch, dass dann die Gestapo (Geheime Staatspolizei) die Sache schnell regeln und unter Kontrolle bringen würde. Man könnte also sagen, dass der Okkupant anfangs etwas überrumpelt war, dann aber doch schnell und heftig gehandelt hat. Mit dieser Reaktion hat sich Gauleiter Gustav Simon damals allerdings keinen Dienst erwiesen. Seine Idee, die Luxemburger schnell vom Deutschtum und für die eigene Sache zu überzeugen, war damit für immer vom Tisch. Seine Reaktion spielte eigentlich der Resistenz in die Hände.
Was bedeuteten die Aktionen der Luxemburger auf internationaler Ebene?
Was die internationale Wahrnehmung anbelangt, hatten sowohl die Exil-Regierung als auch die Alliierten durch das Handeln der Luxemburger Bevölkerung eine wichtige Karte in der Hand. Über die Luxemburger Aktion wurde ja auch in den internationalen Medien viel berichtet, in den USA und in der damaligen Sowjetunion, nämlich vorrangig als Kampf des kleinen David gegen den übermächtigen Goliath.
Das Luxemburger Nationalgefühl wurde dadurch auch gestärkt. Ganz wichtig war, dass die Zäsur, die der Streik hervorgerufen hat, auch dazu beigetragen hat, den Widerstand allgemein zu stärken, vor allem, weil die Aktionen der Widerstandsbewegung zeigten, dass die Resistenz über den nötigen Rückhalt, „Loyalität“, in der Bevölkerung verfügte. Das war sehr wichtig und hat wohl auch mitgeholfen, dass Menschen vorm Feind versteckt wurden oder ihnen geholfen werden konnte, ins Ausland zu fliehen.
Das Ganze hatte dann natürlich auch direkt nach dem Krieg eine wichtige Bedeutung auf internationaler Ebene, nämlich dass in der Diplomatie der Begriff „Luxemburger Staat“, also seine Existenzberechtigung, nicht mehr infrage gestellt werden konnte. Die Eigenstaatlichkeit Luxemburgs war gefestigt, ebenso das Bewusstsein der Menschen, Luxemburger zu sein.
Im Rahmen der Erinnerung an den 31. August 1942 werden oft Begriffe wie „spontane Streikaktionen“ oder „Generalstreik“ verwendet. Was sagen diese Begriffe aus?
Viele Aktionen dürften damals durchaus relativ spontan gewesen sein, vor allem der Streik in Wiltz in der Lederfabrik Ideal oder im Hüttenwerk Schifflingen. Spontan aus dem Grund, weil es eine direkte Reaktion auf die Rede von Gauleiter Simon vom Vortag war, sowie auf Artikel am 31. August im Tageblatt oder im Luxemburger Wort.
Was geschah am 31. August 1942?
Eine Rede von Gustav Simon bringt das Fass zum Überlaufen. Der für Luxemburg zuständige Nazi-Gauleiter kündigt am 30. August 1942 in einer Rede die Wehrpflicht für Luxemburger Männer an. Die Jahrgänge 1920 bis 1924 sollen sofort in die Wehrmacht einberufen werden. In anderen Worten, die 18- bis 22-jährigen Luxemburger sollten zwangsrekrutiert werden. Gänzlich unerwartet kommt das nicht.
Es ist Sonntag. Am Montag berichtet die Tagespresse über Simons Rede. Reaktionen darauf lassen nicht lange auf sich warten. Bereits am Montagmorgen gegen 6 Uhr in der Frühe kommt es in Wiltz bei der Lederfabrik Ideal zu Protestbewegungen, zu einem Streik. Es heißt, dass etwa 800 Arbeiter daran teilgenommen haben.
Durch Simons Wehrpflicht-Forderung irritiert, folgt am selben Tag eine Streikaktion im Hüttenwerk in Schifflingen. Um 18.02 Uhr ertönt die Sirene. Hans Adam, ein deutscher Staatsbürger, löst sie aus. Es heißt, dass die Aktion bereits drei Stunden später aufgelöst wurde. Aber sie zeigt Wirkung: Am folgenden Tag, am 1. September, folgen die Hüttenwerke in Belval und in Differdingen. Schüler, Lehrer, Briefträger und andere folgen und zeigen ihren Unmut.
Die Konsequenzen wiegen schwer, nämlich Repression, Deportation und Exekution. 20 Luxemburger werden aufgrund der Entscheidung eines in Luxemburg nach deutschen Bestimmungen tagenden Gerichts standrechtlich erschossen. Hans Adam, da deutscher Staatsbürger, wird geköpft. An ihn und an alle Widerstandskämpfer soll heute erinnert werden.
Aus dem Nichts sind diese Streikaktionen aber damals nicht wirklich entstanden. In Widerstandskreisen wurde lange vor dem 31. August über mögliche Entscheidungen der Deutschen, wie beispielsweise die Einführung der Wehrpflicht, diskutiert und wie man dann darauf reagieren müsse oder solle. In dem Kontext muss man auch darauf hinweisen, dass sich unterschwelliger Widerstand ja bereits seit längerem regte. Aufforderungen der Nazis an die Luxemburger, wie zum Beispiel, sich in die Waffen-SS oder in den Reichsarbeitsdienst zu melden, waren nicht von Erfolg gekrönt. Besonders die Volksbefragung vom 10. Oktober 1941, bei der die Mehrheit der Luxemburger auf die drei gestellten Fragen mit „Lëtzebuergesch“ antwortete, war ein Fiasko und zeigte, dass die Bevölkerung sich nicht ins Deutsche Reich einverleiben lassen wollte. Auch das war bereits ein totales Desaster für den Gauleiter.
Handelt es sich beim 31. August 1942 und den folgenden Tagen wirklich um einen Generalstreik?
Ein Generalstreik im eigentlichen Sinne oder wie man ihn heute versteht, waren die vielen einzelnen Aktionen damals wohl eher nicht. Es stellt sich dabei auch grundsätzlich die Frage, wie Gruppierungen, die relativ klein sind, unauffällig, alle Schwierigkeiten beachtend, aus dem Untergrund heraus überhaupt einen landesweiten Streik hätten organisieren können.
Ein Generalstreik im klassischen Sinn war es auch nicht, weil das Leben im Prinzip weiterging. Züge sind weiter gefahren, der Staatsapparat hat weiter funktioniert. Es gab auch keine wesentlichen Produktionsausfälle in der Industrie oder sonst wo.
Es ist dennoch so, dass „Generalstreik“ als Begriff in Bezug auf die Ereignisse rund um den 31. August ein historischer Begriff ist. Er wurde sowohl von der Residenz benutzt, von der internationalen Presse und von der Exilregierung. Generalstreik war ein Reizwort für den Besatzer, denn er hatte Angst vor einer allgemeinen Arbeitsverweigerung. Der Begriff hat im historischen Kontext also eine wichtige Bedeutung. Ohnehin sollte man dabei aber auch nicht vergessen, dass sich viele Menschen in zahlreichen Ortschaften des Landes den Streikaktionen angeschlossen haben. Es war etwas Großes, Nationales.
Und heute, 80 Jahre später: Was ist die Bedeutung dieser Streikaktionen? Was ist die Botschaft, die von der Gedenkzeremonie am 31. August 2022 ausgeht?
Darauf gibt es keine einfache, kurze Antwort. Es gibt sicher viele Botschaften. Eine ist, dass man auch in schwierigen Zeiten eine Wahl hat, nämlich die Wahl, sich gegen etwas zu entscheiden.
Es ging damals um junge Leute, denen man sagte, sie seien keine Luxemburger mehr, sie seien jetzt Deutsche und sie müssten jetzt auch für Deutschland in den Krieg ziehen. Man hat diese jungen Menschen damals vor vollendete Tatsachen gestellt, ihnen also keine Wahl, keine wirkliche Alternative geboten. Die einzige Wahl, die sie hatten, war, sich dem Einberufungsbefehl nicht zu stellen, sich ihm zu verweigern – mit allen Konsequenzen, die das hatte oder hätte haben können. Denn ihre Wahl hatte Konsequenzen, sie riskierten wie alle Streikenden zumindest eine Gefängnisstrafe, Konzentrationslager, Folter oder gar ihr Leben – und zudem eine Bestrafung ihrer Angehörigen, wie zum Beispiel Umsiedlung.
Spielt der Ukraine-Krieg eine Rolle bei den Zeremonien dieses Jahr?
Ja, bestimmt. Auch im Ukraine-Krieg gibt es einen Besatzer, der ein Gebiet erobert, von dem er behauptet, es gehöre rechtmäßig ihm. Von den Menschen, die dort leben, denkt er auch, dass sie ihm gehören, dass sie „befreit“ werden müssen, da sie ähnlich wie damals die Luxemburger „gerne zurück ins Reich“ möchten. Dieser vermeintliche Akt der Befreiung ist und war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Kriegsverbrechen.
Dass man sich dem entgegenstellen muss, daran lässt Jérôme Courtoy keinen Zweifel. Wir auch nicht.
Streikbeginn in Schifflingen
Um 18.02 Uhr am 31.8.1942 befestigt Hans Adam einen schweren Haken an der Werkssirene („de Bier“), am Walzwerk in Schifflingen, sodass sie einen Dauerton von sich gibt. Der Streik im Schifflinger Stahlbetrieb beginnt. Am nächsten Tag hätten dann die Hüttenwerke in Belval und Differdingen übernommen, so Alain Guenther, Präsident der „Schifflinger Schmelzarbeiter“ (ehemals Amicale).
Worum geht es heute besonders?
Alain Guenther: Seit 1945 wird auf dem Gelände von Arbed Schifflingen eine Gedenkzeremonie veranstaltet. Wir wollten immer, dass diese gemeinsam mit Esch stattfindet, schließlich gehören wir zusammen. Dieses Jahr haben wir unser Ziel erreicht. Gemeinsam erinnern die beiden Gemeinden auf dem Gelände des alten „Walzwerks 500“ an die Aktion von Hans Adam und an den Beginn des Streiks. Es wird eine größere Zeremonie, dem Datum entsprechend.
Was ist Botschaft dieses Jahr, am 31. August 2022?
Dass durch den Streik und den Widerstand der damaligen Schmelzarbeiter der Wunsch der Luxemburger nach Freiheit betont wurde. Meiner Meinung nach hat das nach dem Krieg vielleicht mit eine Rolle gespielt, dass es uns heute als Land überhaupt noch gibt. Daran wollen wir heute ganz besonders erinnern – und auch an die Ukrainer, die mit ihrem heldenhaften Kampf gegen den mächtigen Okkupanten ein Zeichen für ihre Unabhängigkeit setzen.
- Kirche in Metzerlach weiter auf dem Prüfstand, Gemeinderat genehmigte Zuschuss für „Eis Epicerie“ in Zolver - 17. Januar 2025.
- Nach Straftat in Esch wiederholt „Eran, eraus … an elo?“ eine alte Forderung - 9. Januar 2025.
- Haushalt 2025 im Zeichen von Bildung, Sport und Europa ohne Grenzen - 8. Januar 2025.
Guten Tag Herr Courtoy,
Ihre Aussagen bezüglich der internationalen Reaktionen auf die Tapferkeit der luxemburger BürgerInnen im Kampf gegen Nazideutschland elektrisieren mich. Wo, um Himmels willen, bleiben denn die Informationen über die weltweiten Reaktionen bezüglich der fulminanten Nazipropaganda im päpstlichen „Luxemburger Wort“? Durch diese wegweisende Propaganda waren doch alle (luxemburger) Katholiken gezwungen, dem Nazistaat zu huldigen. Dieser Huldigungszwang war doch auch etwas Großes, etwas Nationales, etwas Internationales! Geschichte ist doch kein Selbstbedienungsladen! Bitte antworten Sie mir, Herr Courtoy! Bitte! Seit 68 Jahren leide ich traumatisiert unter diesem tabuisierten katholischen Huldigungszwang.
MfG
Robert Hottua