Demokratie im Labor / Als Forscher mit Notizblock und Stift in der Abtei Neimënster unterwegs
Bei den zwei Mülltonnen mit der Aufschrift „Ja“ und „Nein“ geht es um Vorurteile. Wer glaubt, ohne welche durch das Leben zu gehen, wird in der Ausstellung „Den Demokratielabo“ enttäuscht. „Jeder kann sich mal irren, alle Menschen haben Vorurteile“, antwortet die Mülltonne denen, die glauben, keine zu haben. Die interaktive Schau verwandelt die „Salle de Greffe“ im Erdgeschoss der Abtei Neimënster in ein Labor, in dem Freiheit, Vorurteile, Gerechtigkeit oder Ungleichheit zum Experiment werden.
Die Mülltonnen sind die Lieblingsstation von Michèle Schilt, der Vizedirektorin des „Zentrum fir politesch Bildung“ (ZpB). Die zwei Behälter haben letztendlich den Ausschlag gegeben, die Ausstellung nach Luxemburg zu holen. Seine eigene Meinung überdenken, vielleicht erst einmal eine finden und das so selbstverständlich empfundene politische System, in dem Europäer leben, mit neuen Augen sehen: Das will das „Demokratielabor“.
Entwickelt hat die Ausstellung jemand, der als Sozialpädagoge und langjähriger Streetworker Erfahrungen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat. Zweifler, Kritiker, Schulabbrecher oder sogar straffällig geworden, Jan Dirk Tuinier hatte Menschen wie sie in den Niederlanden lange unter seinen Fittichen. Er hat eine Erfahrung gesammelt.
„Das Thema Demokratie wird – nicht nur für sie – meistens zu akademisch behandelt“, sagt er. „Sie müssen sie spüren, sie ist Teil ihres Lebens.“ Daraus ist die Idee entstanden, Demokratie erfahrbar zu machen – an sich selbst und in alltäglichen Situationen. Zu zweit absolvieren Besucher die Stationen mit den Aufgaben, um im Dialog ihre Sicht zu prüfen und zu schärfen.
Murmeln und Leergut entscheiden
An der Station, die wie ein Getränkeautomat funktioniert, geht es um das Thema Sicherheit contra Privatsphäre. „Der Geheimdienst analysiert ohne Genehmigung E-Mail-Inhalte“, steht auf einer der Flaschen, die im Ausgabefach des Automaten liegen. „Einverstanden oder nicht?“, heißt die Frage dazu. In den Rückgabeschacht kommen die Flaschen, gegen deren Aufschrift nichts einzuwenden ist.
Die Zahl des Leerguts trennt anschließend die Sicherheitsbefürworter, die bereit sind, Privatsphäre zu opfern, von den Freiheitsbefürwortern, die bereit sind, Abstriche bei der Sicherheit zu machen. Als ZpB-Direktorin Schmit die Ausstellung zum ersten Mal in Brüssel gesehen hat, das war 2019, war nicht abzusehen, wie aktuell das Thema in den beiden Jahren danach wird.
Das Thema „Gleichbehandlung“ wird mit Murmeln entschieden und schärft das Differenzierungsvermögen. Sollen alle Menschen immer gleichbehandelt werden? Oder sollen alle Menschen in den gleichen Situationen gleichbehandelt werden? Das ist ein Unterschied.
Einen Unterschied macht auch, wo die Informationen herstammen, auf deren Basis tagtäglich diskutiert wird. Die Wahl besteht zwischen klassischen Medien wie Le Monde, Guardian oder Tageblatt und den Soziales-Netzwerk-Konkurrenten wie Twitter, Facebook oder WhatsApp. „Nachrichten und ich“, ist das Thema.
Die möglichen Antworten auf die Frage „Welche Aussage passt am besten zu dir?“ treiben Verlagshäuser rund um den Globus seit Jahren um. „Ich nutze eine Quelle, die die Nachrichten nach meinen Vorlieben präsentiert“, ist eine. Und „ich kenne die Schlagzeilen, das reicht mir“ konkurriert mit „ich folge drei Zeitungen online und sehe mir auch ausländische Nachrichten an“.
Interaktiv und zum Mitmachen gedacht
Das „Labor“ macht Spaß. Schon alleine deshalb, weil es dazu aufruft, sich mit den eigenen Vorstellungen zu Demokratie und dem eigenen Verhalten im Alltag zu beschäftigen. Der „Laborbericht“ liefert am Ende Einsichten. Er resultiert aus den angekreuzten Antworten im Begleitheft, das jeder Besucher am Eingang zur Ausstellung erhält und an den jeweiligen Stationen ausfüllen soll.
Pünktlich zum fünfjährigen Jubiläum des „Zentrum fir politesch Bildung“ kommt damit eine Ausstellung ins Land, die nicht im Alleingang, sondern in Auseinandersetzung mit dem Gegenüber zum Nachdenken anregt. Sie stellt Fragen und vermeidet den erhobenen Zeigefinger. Im Nebeneffekt zwingt sie dazu, Position zu beziehen.
Sich mit unserem politischen Dasein experimentell und unter „Laborbedingungen“ zu beschäftigen, steht in wohltuendem Gegensatz zum gewohnten Frontalunterricht oder -vortrag über das Wesen der Demokratie. Für Luxemburg wurden mehrere neue Stationen entwickelt wie die zu Corona, Armut oder Wohnungsnot. Damit haben diese drei Themen endgültig den Kunstsektor erreicht. Die Ausstellung ist sehenswert oder besser gesagt erlebenswert.
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