Vor 50 Jahren: Der Generalstreik vom 9. Oktober 1973 / Als Luxemburg erstmals die Fenster öffnete
1973: Luxemburg hatte genug von Jahrzehnten Vorherrschaft der CSV, erstmals genug von einer Regierung Werner, die sich den Forderungen der Gewerkschaften verweigerte, die sich aber auch dem gesellschaftlichen Aufbruch der späten Sechziger in vielen Teilen Europas und der Welt entgegenstellte. Viele folgten dem Aufruf des LAV („Lëtzebuerger Arbechter-Verband“) und streikten am 9. Oktober. Knapp 40.000 Menschen trafen sich in der Hauptstadt zur bis dahin größten Protestkundgebung der Nachkriegszeit.
Bei der damaligen Gesamtbevölkerung von rund 350.000 Menschen bedeutete dies, dass mehr als zehn Prozent der Einwohner des Landes mit den Füßen gegen den politischen und sozialen Stillstand im Land protestierten. Nach langer Vorherrschaft konservativer Regierungen unter den Staatsministern Joseph Bech, Pierre Frieden und Pierre Werner brachten die kurz darauf abgehaltenen Parlamentswahlen eine LSAP/DP-Regierung an die Macht, die unter Premier Gaston Thorn (DP) erstmals „die Fenster öffnete“ und eine Vielzahl von Reformen durchführte.
Die Kundgebung war dem OGBL, der Nachfolgeorganisation des LAV, wichtig genug, um ihr in ihrer Publikation „100 Joer fräi Gewerkschaften, 1916-2016“ ein eigenes Kapitel zu widmen. Historiker Frédéric Krier beschreibt hier die Umstände, die trotz faktischer Vollbeschäftigung und kollektivvertraglicher Abschlüsse (besonders in der Stahlindustrie) mit Lohnsteigerungen von 15 Prozent und mehr zum Sturz der damaligen Regierung führte.
Der LAV, so Krier, hatte 1970 in einem als Broschüre veröffentlichten Bericht von Generalsekretär Antoine Weiss seine gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen zusammengefasst und erachtete den Zeitpunkt gekommen, die angestrebten sozialen Reformen umzusetzen. Dem LAV-Kongress, der vom 11. bis 13. Mai unter dem Motto „Fir me’ Liewensqualitéit“ stattfand, wurde vorgeschlagen, im Herbst zur Rentrée des Parlaments eine große Demonstration mit gleichzeitiger Arbeitsniederlegung zu organisieren.
Der LAV stand recht allein da
LCGB und FEP wurde vorgeschlagen, sich dem Protest anzuschließen, doch diese beiden Gewerkschaften winkten ab, da das Thema nicht im Vorfeld im CNS (Conseil national des syndicats) besprochen worden war. LVOV und FLTL riefen zwar zur Teilnahme auf, beteiligten sich aber nicht selbst, und FNCTTFEL-Landesverband und CGFP beließen es bei Solidaritätsbekundungen.
Und so kam es, dass die LAV-Spitze und die Militanten den massiven Protest, die Kundgebung, die Logistik usw. praktisch allein bewältigen mussten.
René Pizzaferri, langjähriger hauptberuflicher Gewerkschafter bei LAV und OGBL und aktueller Präsident der Patientenvertretung, erinnerte sich dieser Tage in einem Leserbrief in unserer Zeitung an den 9. Oktober 1973: „Es waren damals über 37.000 Demonstranten gekommen, obwohl der damalige Premierminister Pierre Werner von einer illegalen Aktion sprach, der Minister Emile Krieps (DP) Sicherheitskräfte in den Seitenstraßen des Protestzuges aufstellte und der LCGB seine Mitglieder dazu aufrief, nicht an der Kundgebung und an dem Streiktag teilzunehmen. Es waren aber viele Kameraden vom LCGB, die uns unterstützten … Durch die logistische Planung des LAV war es allen möglich, mit Bus oder Bahn nach Luxemburg zu kommen. Es kam in keinem Fall zu Ausschreitungen und der Zug bewegte sich ruhig vom Bahnhof zum Knuedler. Als die ersten Demonstranten ankamen, gingen die letzten erst beim Bahnhof fort.“
Castegnaro wies die Massen ein
John Castegnaro, damals auch noch junger Sekretär des LAV, stand auf einer Tribüne beim Bahnhof, um die Teilnehmer in den Zug einzureihen.
Mathias Hinterscheid und Antoine Weiss, Präsident und Generalsekretär der Gewerkschaft, erinnerten während der Reden an den 14 Punkte beinhaltenden Forderungskatalog. Verlangt wurden u.a. die Mitbestimmung in den Betrieben, eine fortschrittliche Krankenkassenreform, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die Bekämpfung von Baulandspekulation, Steuererleichterungen auf Lohnzuschlägen, Negativsteuern für Niedrigverdiener, die Verallgemeinerung des Nulltarifs im öffentlichen Verkehr für Arbeiter und Schüler. Parallel zum Protestmarsch befolgten die meisten Beschäftigten der Industriebetriebe, der Handwerksunternehmen und des Baugewerbes den Streikaufruf.
Der Aktionstag war ein voller Erfolg und die Regierung Werner reagierte panisch: Noch vor den Wahlen wurden mehrere Forderungen der Demonstranten erfüllt; einige wurden sogar übererfüllt, wie Pizzaferri sich erinnert. So wurde etwa das Anrecht auf Krankengeld auf 52 Wochen ausgeweitet. Dies sollte allerdings wenig nutzen. Bei der Wahl 1974 verlor die CSV drei Sitze und erreichte 18 Mandate. Die LSAP, die damals gespalten war, verlor zwar einen Sitz (kam auf 17), die abgesplitterte sozialdemokratische SDP erhielt dafür fünf Mandate, die KP gewann einen Sitz und kam auf fünf Abgeordnete und die DP gewann drei Sitze (und kam auf 15). Pierre Werner erkannte die Niederlage an und ging mit seiner Partei in die Opposition.
Die Reformregierung Thorn
Obwohl die Sozialisten mehr Sitze hatten als die DP, wurde Gaston Thorn Staatsminister. Raymond Vouel, Benny Berg, Robert Krieps, Marcel Mart, Jean Hamilius, Guy Linster, Maurice Thoss wurden u.a. Mitglieder der Regierung, die in den Folgejahren eine Vielzahl von sozialen und gesellschaftlichen Reformen durchsetzte, somit das bis dato konservativ und klerikal beherrschte Land und seine Bürger aufatmen ließ. Unter der sozialliberalen Koalition fanden angesichts der dramatischen Stahlkrise erste Tripartite-Sitzungen statt. Index und SNCI (Nationale Investitionsgesellschaft) gehen außerdem direkt auf die Forderungen des Aktionstages zurück.
Die Kundgebung vom 9. Oktober verdeutlichte auch die zunehmende Bedeutung der Immigranten in der Luxemburger Arbeitswelt. Auf riesigen Bannern konnten erstmals auch Forderungen in portugiesischer Sprache gelesen werden.
Erst neun Jahre später, 1982, kam es zu einer ähnlich großen Protestkundgebung in Luxemburg. 40.000 demonstrierten damals gegen eine weitere CSV-geführte Regierung und ihre Politik.
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Wieso erstmals 1973?
Gab es nicht schon 1919 „progessive“ kraefte welche die republik in Luxemburg ausriefen.
Und dann allerdings von den republikanischen franzoesischen besatzungstruppen ausgebremst wurden,welche lieber eine Grossherzogin als bolschewisten an der macht sahen