Ungarn / Amnestie für Schlepper, Knüppelschläge für Geflüchtete – wie Budapest seit Jahren gegen EU-Recht verstößt
Als Europas Bollwerk gegen die Migration pflegt sich Ungarns Regierung selbst zu preisen. Doch trotz hoher Grenzzäune, der Aushebelung des Asylrechts und gewaltsamen Abdrängung von Geflüchteten floriert der Menschenschmuggel – und ist Ungarn ein wichtiges Transitland auf der Balkanroute geblieben.
Aus seiner Genugtuung über die Berliner Asylkehrtwende macht Ungarns mitteilungsfreudiger Vormann keinen Hehl. „Willkommen im Club“, reagierte Premier Viktor Orban auf die Kunde der wieder eingeführten Kontrollen an den deutschen Grenzen: Endlich sei auch „Deutschland aufgewacht“.
Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist in diesem Jahr zwar um ein Fünftel gesunken. Aber bei Berlins überhitzter Migrationsdebatte legen sich die Stimmenjäger im Vorwahlfieber quer über alle Parteigrenzen hinweg kaum mehr Denkgrenzen auf: Selbst der notorische EU-Störenfried Orban scheint mit seinem Dauerfeldzug gegen die vermeintliche Überfremdung des Abendlands zum insgeheimen Vorbild von Europas neuen Abschottungsenthusiasten in Deutschlands Oppositions- und Regierungsreihen mutiert.
Doch als Modell oder Muster taugt Ungarns Europapolitik des nationalen Egoismus auch in der Asylpolitik keineswegs: Seit Jahren verstößt Budapest gegen Europäisches Recht – auf Kosten der EU-Partner, der EU-Nachbarn, der Geflüchteten – und der eigenen Steuerzahler.
Nur auf dem Papier
Schon seit der Flüchtlingskrise 2015/16 besteht das Recht auf Asyl in Ungarn nur noch auf dem Papier und ist faktisch aufgehoben: Budapest macht es Geflüchteten nahezu unmöglich, im Donaustaat noch ein Asylgesuch zu stellen.
Ausgerechnet der Staat, in dem im Sommer 1989 der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West durchlöchert wurde, ließ auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Juni 2015 einen meterhohen Zaun an seinen Grenzen zum EU-Anwärter Serbien und im September 2015 auch zum EU-Partner Kroatien errichten. An den Grenzübergängen Röszke und Tompa wurden sogenannte „Transitzonen“ eingerichtet, in denen zunächst zehn, ab 2018 ein Asylsucher pro Tag aufgenommen wurden: In den eingezäunten Containerlagern hatten Geflüchtete monatelang unter gefängnisähnlichen Bedingungen die Entscheidung über ihr Asylgesuch abzuwarten.
Nicht nur Hilfsorganisationen klagten über Schikanen, mangelnde Nahrung und unzureichende medizinische Versorgung in den umstrittenen Lagern. 2020 stufte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Transitzonen als „unzulässige Haft“ ein. Die Richter wollten den EU-Mitgliedern „Migranten aufzwingen“, grantelte damals Orban: Doch Ungarns Verfassung habe „Vorrang“ vor deren Urteil.
Letztendlich fügte sich Budapest aber dem Richterspruch und ordnete im Mai 2020 die Schließung der Transitzonen an: Noch immer laufen vor dem EuGH die Prozesse von früheren Lagerbewohnern, die Ungarn wegen Freiheitsberaubung und unmenschlicher Behandlung verklagt haben.
Seit der Schließung der Transitzonen hält Budapest mit neuen bürokratischen Hürden Schutzsuchende fern. Seit 2020 müssen potenzielle Asylbewerber erst eine Absichtserklärung bei Ungarns Botschaften im serbischen Belgrad oder im ukrainischen Kiew einreichen.
Ungarns Grenzzaun hat nur die Tarife der Schlepper verteuert, aber ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Er wird überklettert, untertunnelt – oder mit Hilfe von bestochenen Grenzpolizisten umgangen.Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsucher im serbischen Belgrad
Erst wenn ihnen dort nach mehrwöchiger Wartezeit grünes Licht erteilt wird, dürfen sie zum Stellen eines Asylantrags von den EU-Anrainerstaaten nach Ungarn reisen. Der Mehrheit der wenigen Antragsteller ist allerdings kein Erfolg beschieden: 2023 wurden in Ungarn nur fünf Asylanträge positiv beschieden.
Fremdenfeindlichen Populisten im Westen mögen angesichts dieser Asylzahlen die Augen glänzen. Doch mit EU-Recht hat Ungarns rigide Asylpraxis nichts zu tun. Weil Budapest sich wiederholt der Aufforderung verweigerte, Geflüchteten auch an der Grenze einen Asylantrag zu ermöglichen, hat der EuGH den Donaustaat im Juni zu einer Strafe von 200 Millionen Euro verdonnert. Gleichzeitig ordnete der Gerichtshof ein Zwangsgeld von einer Million Euro pro Tag an, sollte sich Budapest der Zahlung der Strafe verweigern.
Den in der EU abgesprochenen Kontigentaufnahmen von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen in Südeuropa pflegt Budapest sich resolut zu verweigern. Auch Ungarns erklärter Feldzug gegen die illegale Immigration geht vor allem auf Kosten der Nachbarn. Nicht nur im Grenzgebiet, sondern im gesamten Staatsterritorium aufgegriffene Transitmigranten werden über die grüne Grenze sofort zum EU-Anwärter Serbien abgeschoben – auch wenn sie vom EU-Nachbarn Rumänien nach Ungarn eingereist sind.
Als Europas Bollwerk gegen die Migration pflegt sich Ungarns Regierung gerne selbst zu preisen. Doch trotz hoher Grenzzäune und Knüppeleinsatz bei der gewaltsamen Abdrängung von Geflüchteten floriert der Menschenschmuggel – und ist Ungarn ein wichtiges Transitland auf der Balkanroute geblieben.
„Ungarns Grenzzaun hat nur die Tarife der Schlepper verteuert, aber ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Er wird überklettert, untertunnelt oder mit Hilfe von bestochenen Grenzpolizisten umgangen“, berichtet Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylsucher im serbischen Belgrad.
Der Großteil der 108.000 Transitmigranten, die 2023 offiziell in den serbischen Aufnahmelagern registriert wurden, sei über Ungarn nach Westen weiter gereist, sagt Djurovic. Dabei hatte Ungarns Grenzzaun nach seinem Bau 2015 tatsächlich zunächst für eine Umleitung auf der sich ständig ändernden Balkanroute gesorgt: Statt über Ungarn zogen Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan fortan vor allem über Bosnien, Kroatien und Slowenien nach Westen.
Mythos um den Zaun
Mit den „in Serbien und Ungarn besonders stark entwickelten Schleppernetzwerken“ begründet Milica Svabic von der Belgrader Hilfsorganisation „KlikAktiv“, dass diese ihre Klientel trotz des Grenzzauns ab 2022 erneut vor allem über Ungarn nach Westen zu schleusen begannen: „Letztendlich sind es die Schlepper, die den Routenverlauf bestimmen. Auf eigene Faust ist im Gegensatz zu früheren Jahren fast niemand mehr unterwegs.“
Vom florierenden Schlepperbusiness in Ungarn zeugt auch eine fragwürdige Amnestie. Zur Entlastung der überfüllten Gefängnisse entließ Ungarns Justiz 2023 rund 1.500 von 2.600 ausländischen Schleppern vorzeitig aus der Haft.
Großrazzien der serbischen Polizei im Grenzgebiet zu Ungarn haben Ende 2023 zwar eine erneute Umleitung der Balkanroute verursacht. Doch auch wenn die Schlepper derzeit wieder vermehrt auf die Bosnien-Route setzen, ist der Menschenschmuggel über Ungarn laut Djurovic weiter aktiv: „Es ist ein Mythos, dass der ungarische Zaun die Migration aufhält.“
- Es weihnachtet sehr: „Winterlights“ haben offiziell eröffnet - 22. November 2024.
- Die Kanzlerpartei klatscht, die Kanzlerpartei zweifelt - 22. November 2024.
- 7. Spieltag der Audi League: Reckingen fordert den Titelverteidiger heraus - 22. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos