Nachruf / Anarchist und Anwalt: Begegnungen mit Maître Gaston Vogel
In der Öffentlichkeit pflegte er das Bild eines zornigen Mannes. In den persönlichen Gesprächen mit dem Autor zeigte sich Me Gaston Vogel zumeist von einer anderen Seite. Der große Individualist war ein Kenner der Philosophie und Literatur sowie der asiatischen Kunst und Kultur. Am Samstag, 2. November, ist der berühmte Rechtsanwalt verstorben.
Sein Ruf eilte ihm voraus. Me Gaston Vogel war berüchtigt für seine Wutausbrüche ebenso wie für seine pointierten und fein ziselierten Plädoyers, aber auch für seine unermüdliche Kritik an der luxemburgischen Justiz und Politik – und für seine Einlassungen zu vielen gesellschaftlichen Fragen. Persönlich zum ersten Mal habe ich ihn im Laufe des „Bommeleeër“-Prozesses in den Jahren 2013 und 2014 erlebt. Unvergesslich für mich waren jene Momente, als er das Wort erhob, neben sich sein Mandant Marc Scheer sowie die Verteidigerin Lydie Lorang und deren Mandant Jos Wilmes. Vogel setzte leise und mit gewohnter Eloquenz an. Seine Rede war ein Beispiel brillanter Rhetorik. Das Crescendo, anfangs kaum zu bemerken, steigerte sich mehr und mehr, die Worte wurden härter, ihr feines Schleifzeug wich der gröberen Feile, bis der Wortschmied Punzen, Reißnadel und Stichel durch Hammer und Amboss eintauschte, sodass die Rede in einem mächtigen finalen Gewitter gipfelte, in dem die einzelnen Silben wie Blitze einschlugen – Vogels Zorn hatte sich mit Inbrunst Bahn gebrochen.
Seine Befragungen und Wortmeldungen im „Bommeleeër“-Prozess dürften in die Luxemburger Justizgeschichte eingegangen sein. Manche glichen inszenierten Theatermonologen. Der begnadete Rhetoriker benutze den Gerichtssaal als Bühne, wurde behauptet. Doch es gebe keine Inszenierung, erklärte mir Vogel bei meinem ersten Besuch in seiner Kanzlei. „Alles kommt aus dem Bauch“, sagte er. „Ich spiele kein Theater. Ich reagiere vulkanisch.“ Er wusste auch, dass einem die Worte, einmal falsch interpretiert, wie Blindgänger um die Ohren fliegen können. So etwa, als ihm der Prozess gemacht wurde, nachdem er 2015 einen offenen Brief an die hauptstädtische Bürgermeisterin Lydie Polfer geschrieben hatte, in dem er über Bettler rumänischer Herkunft schrieb, die sich vor seiner Kanzleitür aufhielten. Es hieß, seine derben Worte seien diskriminierend, rassistisch und volksverhetzend gewesen. Es wurde Klage eingereicht. Der berühmte Anwalt fand sich selbst auf der Anklagebank wieder und musste sich wegen Aufrufs zum Hass verantworten. Vogel nannte den Prozess „kafkaesk“. Er habe nichts gegen Bettler, auch nichts gegen Sinti und Roma. Vogel wurde in erster wie in zweiter Instanz freigesprochen.
Als ich das Büro seiner Kanzlei betrat, erwartete mich ein ruhender Vulkan, inmitten seiner zahllosen Bücher mit großer Literatur und Philosophie, ganzer Pléiade-Reihen sowie kunsthistorischer Werke und Fotobände über ferne und weniger ferne Länder, der mich an seinen Schreibtisch bat. Ich erhielt einen Vorgeschmack auf das Universum des Maître, auf den Kosmos seines Denkens. Möbelstücke aus dem alten China befanden sich im Raum. Vogel blieb an einem mächtigen Block stehen. „Die zu Stein gewordenen Überreste eines Baumes aus Sumatra, viele Millionen Jahre alt“, sagte er. Mir fiel eine Sammlung kugelförmiger, glatt geschliffener Steine auf. „Auch versteinertes Holz“, erklärte Vogel. Er war als Sammler asiatischer Kunst bekannt. Mineralien faszinierten ihn ebenso, Zeugen einer vergangenen, menschlich kaum fassbaren Zeit, die sie überdauert hatten, aus der Zeit gefallen. Er hasse die Zeit, hatte er einmal gesagt. Es schien, als wolle er sie aufhalten. Die Ewigkeit schien seinen kostbaren Sammlerstücken innezuwohnen. Vogel sammelte leidenschaftlich – wie er vieles aus Leidenschaft tat.
Ruhe des Ruhelosen
Geboren wurde er im Jahr 1937, aufgewachsen ist er in Walferdingen. Sein Vater sei ein Latinist und Kenner der altgriechischen Philologie gewesen, erzählte er, „aber irgendwie ein wenig meschugge. Er übersetzte den Faust auf Latein und auf Griechisch.“ Seine Mutter sei eine liebevolle Frau gewesen, fügte er hinzu. Geschwister hatte er keine. Vogel besuchte das Athenäum und befasste sich mit französischer Literatur und alten Sprachen. „Es war eine wunderbare Zeit“, erinnerte er sich. „Ich hatte exzellente Professoren. Wir kamen an die französischen Universitäten und wussten mehr als die anderen.“ Nachdem er sich an seinen Schreibtisch, auf dem eine Buddha-Figur aus Jade stand, gesetzt hatte, sprachen wir lange über Literatur und Philosophie. Nichts war zu spüren von dem Berserker, als der er oft beschrieben wurde, nichts von jenem polternden Unikum, der den hiesigen Justizapparat mit Wortsalven verdammte. Eine unerwartete Ruhe ging von dem Ruhelosen aus. Nur andeutungsweise schien es tief in seinem Innern zu brodeln. Während er mich durch seine Brillengläser musterte, erkannte ich auf einem Gemälde an der Wand sein Gesicht. Der Kontrast von Hell und Dunkel erinnerte mich an Francisco de Goya, einen seiner Lieblingsmaler. Das Bild schien mir ganz und gar Vogels Widersprüche zu zeigen. „Kunst ist etwas Ernsthaftes“, sagte Vogel. Sie gehe in die Tiefe, entspreche einer Empfindung des inneren Feuers. Sie sei nichts Oberflächliches, von dem man heutzutage genug habe. „Ich lache nicht, sagte er zur Fotografin, und wenn, dann nur ein ‚rire jaune‘.“
Während er die Digitalisierung ablehnte, aber die modernen Medien durchaus nutzte, bevorzugte er Bücher. Das Lesen und das Schreiben seien seine Lieblingsbeschäftigungen, sagte er. Auf die Frage, welche Revolution er am meisten bewundere, nannte er die Gutenbergs. Seine Lieblingsdichter seien Benn, Trakl und Mandelstam, als Lieblingsromanciers nannte er Dostojewski und Proust – er bezeichnete die Schriftsteller als seine Freunde. In seiner Kanzlei sah ich die Porträts einiger seiner Idole. „Der Widerspenstige“ wurde er einmal genannt. Vogel war Pessimist. Er misstraute den Menschen. Umso mehr gewährte er ihnen Freiheit. Er legte sie nicht fest. Fast anmaßend sei es, von einem Menschen zu behaupten, ihn zu kennen, geschweige denn, sich selbst. Der Mensch sei voller Tiefen. Und dass Tiefen gefährlich seien, wusste Vogel nur zu gut. Die Poeten und Romanciers hätten es geschafft, die Tiefen der menschlichen Psyche zu ergründen.
Vogel war stets ein überzeugter Antimonarchist. Anlässlich der Heirat von Erbgroßherzog Guillaume 2012 verfasste er einen offenen Brief an den damaligen Premier Jean-Claude Juncker und empörte sich darüber, dass staatliche Räume für die Hochzeit des Prinzenpaares zur Verfügung gestellt und eine Menge Geld dafür ausgegeben würden. Vier Jahre zuvor hatte er einen geharnischten Brief an den Großherzog geschrieben, als dieser das Gesetz über die Euthanasie nicht unterzeichnen wollte. Dagegen hielt er sich in Bildungsfragen für konservativ: „Ich bin nicht für die Nivellierung nach unten, bin aber auch nicht elitär“, sagte er mir in unserem viele Stunden dauernden Gespräch. Ihn störte, „dass in der Schule die Zivilisation bei der Akropolis aufhörte und dahinter nichts sei. Umso mehr interessierte ich mich für Asien.“ So entwickelte er sich zu einem ausgeprägten Kenner der asiatischen Kultur. Später gab er Kurse über die chinesische, japanische und indische Geschichte. Mehr als 30 Mal war er in Indien, eines seiner bevorzugten Länder. Von seinen Reisen nach Asien zeugen prächtige Bildbände wie „Au pays du jade“, die mit seinen eigenen Fotos illustriert sind.
Die Examen der Cours supérieurs, damals das erste Universitätsjahr in Luxemburg, schloss er im Jahr 1958 ab und studierte danach Recht und Kriminologie in Nancy. Warum er nicht Literaturprofessor geworden sei? „Es hätte mich krank gemacht“, antwortete er. „Mir hätte die nötige Distanz gefehlt“, erklärte Vogel. „Ich brauchte festen Boden. Hätte ich Literatur studiert, hätte ich Angst gehabt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich wäre an der Literatur zerbrochen. Deshalb wählte ich das Recht. Aber nicht das Recht der Paragraphen.“ Rechtsanwalt sei für ihn eher eine „literarische Profession“. Als Anwalt hatte Vogel nach eigenen Worten dauernd aus seinen literarischen Kenntnissen geschöpft. Vor allem Dostojewski war für ihn eine unerschöpfliche Quelle. Keiner habe die Abgründe der menschlichen Seele und die existenziellen Ängste besser beschrieben als der russische Schriftsteller. Er lehrte ihn, die Bedeutung der Wörter wertzuschätzen und sie als Waffe des Anwalts zu benutzen. „Sehr schlimme Literatur“, sagte er, „aber schlimm im guten Sinne des Wortes.“ Wie Dostojewski die Psyche seiner Romanfiguren ergründete, wie jene des Mörders Raskolnikow aus „Verbrechen und Strafe“, das war Vogel hilfreich, seine Mandanten zu verstehen.
Der Agnostiker
Intensiv beschäftigte sich Vogel mit dem Christentum und schrieb mehrere Bücher darüber. Eines seiner ersten Bücher handelt von Jesus: „Pour Jésus, le parent pauvre du christianisme“ aus dem Jahr 1989. „Ich habe schon immer gesagt, dass die christliche Religion nicht die Religion von Jesus ist. Jesus zählt ja nicht, sondern Paulus, der das Ganze in die Welt gesetzt hat.“ Vogel sagt, er sei ein „absoluter Anti-Christ“. Die asiatische Gedankenwelt sei viel interessanter als die verkrustete christliche. „Sie ist viel offener. Der Taoismus ist eine fantastische Philosophie, in der die kosmische Energie im Mittelpunkt steht und nicht über Gott gefaselt wird, mit seinem Mitleid und seiner falschen Liebe. In Indien haben sie einen Gott namens Shiva. Für die Intellektuellen ist es ein Symbol sowie Mann und Frau zugleich. Die komplette Einheit. Er ist Zerstörer, aber auch ein Aufbauender. Alles zusammen.“ Eines seiner Bücher handelt vom Buddhismus. Er selbst sei „weder Buddhist noch irgendetwas anderes“. Er bezeichnet sich als Agnostiker.
„Das Beste, was ich je in Deutsch gelesen habe, und das Beste, was ich überhaupt an Aphorismen kenne“, sei von Nietzsche. Vogel bezeichnete sich als „absoluten Nietzscheaner“. Anlässlich des hundertsten Todestages des deutschen Philosophen veröffentlichte er ein Buch über ihn. Was ihn an diesem oft missverstandenen und falsch interpretierten Denker faszinierte, „ist diese tropische Feuersbrunst. Es funkelt von allen Seiten und widerspricht sich dauernd. Nicht Stein auf Stein wie in der normalen traditionellen Philosophie.“ Es sind die Widersprüche, die auch die Person Gaston Vogel ausmachten. Von einem Rechtsanwalt zu hören, dass die Wahrheit nur eine Illusion sei, überrascht. Diese Worte von Vogel zu hören, verwunderte nicht. „Ich bin Anwalt. Ich bin nicht Jurist. Ich hasse die Paragraphen, sie sind trocken und langweilig“ – obwohl er etliche Rechtsbücher herausgab. „Totschläger“ nannte er sie, „langweilig, aber notwendig.“
Gerechtigkeit gebe es gar nicht, so Vogel. Warum wurde er dann überhaupt Rechtsanwalt? Als Anwalt sei er immer für den, „der allein ist und gegen den alle sind“, antwortete Vogel. Allein gegen die Institutionen, gegen ein System der Heuchelei? „Ja, natürlich. Ein Anwalt ist entweder Anarchist oder er ist kein Anwalt. Er kann niemals auf der Seite der Ordnung sein, sondern muss unabhängig sein und diese Unabhängigkeit von Anfang an pflegen.“ Der Anwalt als Anarchist, oder der Anarchist als Anwalt, so könnte Vogels Job Description lauten. Wen er gerne noch verteidigt hätte? „Adolf Eichmann“, sagte mein Gegenüber. „Ich hätte nachgewiesen, dass die Kirche 2.000 Jahre lang den Holocaust vorbereitet hatte.“ Dass sein Bild vom Menschen negativ war, „und absolut pessimistisch“, wie er sagte, hat er mehrfach betont. „Ich glaube an gar nichts Gutes“, sagte Vogel. „Meine Theorie bewahrheitet sich jeden Tag. Der Mensch ist ein Affe, den man Homo sapiens nennt, der schlimmste im Zoologischen Garten.“ Der Mensch sei aus krummem Holz geschnitzt, also könne man nichts von ihm erwarten. Vogel nannte sich einen Seiltänzer: „Einige haben das Glück, über das Seil zu gehen, ohne zu fallen. Andere fallen.“ Niemand könne behaupten, gut zu sein. „Wir sind jenseits von Gut und Böse“, sagte er, einmal mehr Nietzsche zitierend.
Justiz und Politik
Er hasste auch die Politik. Sie sei notwendig, sagte er mir. Aber die Leute, die sie machten, seien oftmals kulturlose, ungebildete Gestalten ohne Charisma. Niemals würde er sich einer Parteihierarchie fügen. Parteigänger zu sein, hätte seinem Naturell widersprochen. Ein paar wenige Politiker schätzte Vogel immerhin, Robert Krieps war einer davon, Jean-Claude Juncker auch: „Ein feiner Kerl, der nicht sympathisch wirken will.“ In den 50ern war Vogel für die Algerier, die für ihre Unabhängigkeit gegen Frankreich kämpften. Während der kubanischen Revolution stand er auf der Seite Fidel Castros, den er als großen Redner verehrte. Und während des Vietnamkrieges vertrat er leidenschaftlich die Seite Ho Tschi Minhs gegen die Amerikaner. Als die US-Truppen aus Vietnam abzogen, war das für Vogel einer der schönsten Momente. Im Gespräch nannte er die US-Amerikaner vor allem „Yankees“, die ihr Land auf dem Genozid an den Indianern aufgebaut hätten. Bei einem späteren Gespräch einige Jahre später äußerte sich Vogel einmal mehr pessimistisch über den Zustand der Demokratie: „Wir leben nicht in einer richtigen Demokratie.“ Stattdessen regiere die Bürokratie. Vogel sprach von einer „Bürokratur“. In mancherlei Hinsicht äußerte sich der prominente Anwalt als „Skeptiker des Klimawandels“, und auch in puncto Covid-Pandemie befand er sich zumindest in der Nähe von Verschwörungstheoretikern.
Die berühmte Stay-Behind-These hatte jedoch eine reale historische Basis: Über sein berühmtestes Gerichtsverfahren, den „Bommeleeër“-Prozess, sagte mir Vogel in einem Interview fünf Jahre, nachdem das Verfahren auf Eis gelegt worden war: „Der Bommeleeër-Prozess ist ein Prozess, der auf Lügen basiert.“ Es sei praktisch alles getan worden, „um nichts herauszufinden“. Erst vor ein paar Tagen hat die Justiz bekanntgegeben, dass es zu einem erneuten Prozess in der Affäre kommen wird.
„Mein Kopf ist immer wie ein Kaleidoskop voll mit Dingen“, sagte mir Vogel in einer der zahlreichen Unterhaltungen, die unserem ersten Gespräch folgten. Über Marcel Proust veröffentlichte Vogel, der eine Zeit lang in Paris gewohnt hatte, eine Anthologie: „Als ich das Buch schrieb, stand ich morgens um vier auf.“ Wie war das Pensum möglich? „Ich kann nicht schlafen“, gestand er. Vogel las mir im Laufe unserer Gespräche immer Gedichte unter anderem von Rilke, Benn und Trakl vor. Es waren Meister des Worts, sprachmächtig. „Das Wort ist einfach magisch, schamanisch“, sagte Vogel. „Es ist das größte Mysterium, das der Mensch besitzt. Es unterscheidet uns von den Tieren.“ Und er rezitierte aus „Les fleurs du mal“ von Charles Baudelaire, den er ebenso verehrte wie Arthur Rimbaud, beides verfemte Dichter am Rande der Gesellschaft, deren Werte sie ablehnten. Als das größte Unglück betrachtete er, „einen Menschen zu verlieren, mit dem man sehr gut gelebt hat – wie meine Frau, und die man auf einmal durch Suizid verliert“. Das sei das „Schlimmste, was es gibt“. Den Tod betrachte er als Erlösung, sagte Vogel in einem sehr traurigen Moment und fügte hinzu: „Ich freue mich auf ihn.“
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