OGBL-Kongress / André Roeltgen: „Ich würde es noch einmal ganz genau so machen“
Nach Jean-Claude Reding war André Roeltgen erst der zweite OGBL-Präsident, der nicht aus dem Arbeitermilieu kam. Der Wandel der Gesellschaft und der Arbeitswelt offenbart sich auch in der
Gewerkschaft, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei ihrem Kongress heute mit Nora Back erstmals eine Frau an ihre Spitze wählen wird. Wir sprachen mit dem scheidenden Präsidenten über Hochs und Tiefs seiner Arbeit, die sich verändernde Stellung der Arbeitnehmer, wie die Gewerkschaft sich verändert hat und wie der Gewerkschaftsberuf einen Menschen prägt.
Tageblatt: Sie waren bei der Sitzung des „Comité permanent du travail et de l’emploi“ am Montag nicht mehr dabei, lassen sie sich langsam auslaufen?
André Roeltgen: Nein, dies war eine rein logische Entscheidung. Das Komitee soll sich mit den von der Regierung vorgegebenen Fragen des Arbeitsrechtes beschäftigen, was mehr als eine Sitzung verlangt. Am Samstag bin ich in Rente, es ist demnach nur normal, dass Nora Back die OGBL-Delegation präsidierte.
Nach Jahrzehnten aktiver Gewerkschaftsarbeit und fünf Jahren und einem Tag als Präsident haben Sie Höhen und Tiefen erlebt. Was bleibt Ihnen besonders positiv in Erinnerung?
Am Anfang meiner Laufbahn war ich lange im Gesundheits- und Sozialwesen aktiv; damals konnten wir große gewerkschaftliche Erfolge feiern. Ein großer Moment war sicher der zweite große Kollektivvertrag im Pflege- und Sozialbereich, den ich damals übrigens mit Jean-Claude Reding ausgehandelt habe. Komplizierte Verhandlungen verbunden mit einigen notwendigen Mobilisierungen führten damals zu etwas richtig Großem. So etwas zehrt natürlich an einem, andererseits erinnert man sich aber gut an diese speziellen Momente. Später als ich nicht mehr in den Berufssyndikaten aktiv war, während der Zeit als Generalsekretär und später als Präsident waren da die Dossiers, die langwierig und mit großem Einsatz verbunden waren. Der lange Kampf 2006 bis 2014 zum Beispiel, bei dem es darum ging, unser Index-System zu schützen, was schließlich gelang. Hier war der OGBL an vorderster Front aktiv und wir konnten den Index trotz heftiger Angriffe verteidigen. Auch das PAN-Gesetz war ein Erfolg. Anfangs wollte das Patronat die totale Flexibilisierung der rechtlichen Arbeitszeiten und hatte in dem Sinn bereits ein Abkommen mit der Regierung. Schnell reagierten wir, mobilisierten, informierten, verhandelten und konnten ein Gesetz erreichen, das nicht nur die gewünschte Flexibilisierung verhindern konnte, sondern viele positive Aspekte, wie die Mitbestimmung bei den gleitenden Arbeitszeiten usw., brachte. Auch die Einführung des „Statut unique“ war ein Erfolg. All diese Dossiers, die einen lange und intensiv beschäftigen, prägen selbstverständlich stark.
Niederlagen gab es immer dann, wenn die gewünschten Ziele eben nicht erreicht werden konnten. Ich habe bedauert, dass wir in den letzten Jahren vor allem in arbeitsrechtlichen Diskussionen nicht weitergekommen sind, die deshalb weiter auf der Tagesordnung stehen. Eine Enttäuschung war sicher der unnötige soziale Rückschritt bei der Rentenreform 2012. Hier hatte ich mir von der politischen Seite mehr Gegenwehr gegen den Druck aus Brüssel erwartet im Sinne der Verteidigung des sozialen Besitzstandes hier. Mein persönliches Resultat bei den letzten Sozialwahlen zählt sicher auch zu den Enttäuschungen.
Sie überblicken einige Jahrzehnte der Gewerkschaftsgeschichte. Wie sehen Sie die Entwicklung von einer Organisation mit wenigen Frauen und einer eher gleichgültigen Einstellung gegenüber Umweltfragen bis zur heutigen Sichtweise der Dinge?
Natürlich hat sich die Gewerkschaft in vielen Punkten verändert, wobei die erste Ursache aber der Wandel der Gesellschaft ist. Betrachtet man die Betriebswelt in Luxemburg, so hat sich der Dienstleistungssektor stark entwickelt und verändert; die Berufe, die Gesellschaft, ihre Werte sind andere als vor 30 Jahren. Die Welt ist schneller und komplexer geworden. Betrachten wir die Geschlechterfrage, so sind weitaus mehr Frauen beruflich aktiv. Dies alles führte dazu, dass auch die Gewerkschaft sich veränderte. Hätten wir uns nicht angepasst, würde es uns heute nicht mehr geben. Die veränderte Realität in den Betrieben führte natürlich zu einer anderen Realität in unserer Organisation. Bei den hauptamtlichen Mitarbeitern haben wir die Parität übrigens praktisch erreicht. Wir sind sicher keine Männergewerkschaft mehr.
Und wie sehen Sie die Stellung der arbeitenden Menschen heute im Verhältnis zu etwa 1990? Ist die Gesellschaft ausgeglichener geworden?
Die sozialen Ungleichheiten haben stark zugenommen, auch in Luxemburg wie überhaupt in der gesamten kapitalistischen Welt. Wir haben ein großes Verteilungsproblem. Im Verhältnis steht das Salariat heute sicher nicht besser da als vor 30 Jahren. Es gab natürlich Produktionsgewinne, von denen profitiert werden konnte, betrachtet man aber die Proportionen, so sind die Arbeitnehmer, ihre Familien, die Rentner eher schlechter dran. Dies liegt auch an dem starken Druck einer neoliberalen Reformagenda seit dem Jahr 2000, dies spiegelte sich auch in Luxemburg wider, wo soziale Leistungen in der Entwicklung hinter dem geblieben sind, was notwendig und angebracht gewesen wäre. Die Steuerlast ist ständig ungerechter verteilt worden. Die Betriebe zahlen immer weniger, die Schieflage zwischen Kapitalbesteuerung und Einkommenssteuern nimmt zu ebenso wie die indirekten Steuern. Dies wird in allen Messparametern, wie etwa dem Gini-Koeffizienten, dem Armutsrisiko usw., deutlich. Das führt selbstredend zu heftigen sozialen Problemen, was denn auch die Antwort auf die Frage ist.
Was in Luxemburg neben anderen Aspekten erschwerend hinzukommt und einen ständigen Kaufkraftverlust bedeutet, ist der Wohnungsnotstand. Deshalb muss die Regierung dringend etwas gegen Spekulation unternehmen. Wir haben dabei viele Verschlechterungen verhindern können und nach der Austeritätspolitik neue Akzente setzen können, mit denen die Gesamtlage auf einen besseren Weg kommen konnte. Die Herausforderungen bleiben allerdings bestehen.
Noch ein Wort zum Zusammenwachsen mit dem Landesverband …
Die FNCTTFEL hat mit großer Mehrheit für das Abkommen gestimmt, wir werden dem Projekt während des Kongresses sicher auch zustimmen. Ich beschreibe es als Hochzeit auf Probe, eine positive Entwicklung, die auf die Zusammenarbeit der letzten Jahre aufbaut und sicher beide Seiten in der gemeinsamen gewerkschaftlichen Aktion stärken wird.
Und wie sehen Ihre persönlichen Zukunftspläne nach dem Kongress aus?
Meine Präsidentschaft kommt nun zum Ende, aber ich werde weiter mit dem OGBL verbunden bleiben. Vor allem werde ich politische Beratungsarbeit für die neue Präsidentin und ihr Team machen, dies hauptsächlich in den Bereichen Wohnen, Klima und Umwelt, Kampf gegen soziale Ungleichheiten und Steuerpolitik.
Der Druck meiner bisherigen Funktion wird wegfallen, mit dem Alltagsgeschäft und mit laufenden Verhandlungen werde ich nichts mehr aktiv zu tun haben. Dies wird mir mehr Luft für meine privaten und familiären Interessen geben. Hierauf freue ich mich ganz besonders.
Eine abschließende Frage: Hat der Job des Gewerkschaftspräsidenten Sie verändert, einen anderen Menschen aus Ihnen gemacht?
Ganz sicher. Ich bin der Meinung, dass jeder Job einen Menschen verändert. Dies ist besonders spannend bei einer Aktivität, die mit persönlichem Engagement verbunden ist. Dies gilt auch für alle Gewerkschaftler, Menschen, die sich hier einbringen, lernen viel, es findet eine regelrechte Persönlichkeitsentwicklung statt.
Die aufgebauten sozialen Beziehungen gehen oft sehr tief im gemeinsamen Kampf und beeinflussen die Menschen. Mich prägte diese Arbeit persönlich sehr stark und das meine ich in positiver Weise. Allein die Tatsache, dass kein Arbeitstag wie ein anderer war, ständig neue Herausforderungen anstanden, formte mein Wesen. Wenn ich heute vor der Entscheidung stehen würde: Ich würde es noch einmal ganz genau so machen.
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