Kunstbiennale Venedig / Aneignung und Utopien in der Kunst
Die 60. Kunstbiennale in Venedig verschreibt sich mit dem Leitmotiv „Foreigners Everywhere“ unter der Leitung des Kurators Adriano Pedrosa der Kunst marginalisierter Minderheiten. Selbstironische oder -kritische Reflexionen sind rar. Ein paar Highlights gibt es aber dennoch, vor allem bei den Länderpavillons in den Giardini. Eine persönliche Auswahl.
1. Ein queer-indigenes Luftschloss (USA)
Das Bekenntnis zum „Antikolonialismus“ zieht sich auf der 60. Kunstbiennale wie ein roter Faden durch die Beiträge der Länderpavillons. Doch selten ist es so verspielt umgesetzt wie in Jeffrey Gibsons Ausstellung „The place in which to place me“. In bunten Perlenketten präsentiert der queere Künstler, der dem Mississippi Band of Choctaw Indians angehört und ein Abkömmling der Cherokee ist, seine Vorstellung einer egalitären Welt, in der die Rechte der Indigenen gewahrt werden. Dazu spinnt er konsequent den Traum, was wäre, wenn die Indigenen in den USA nie verfolgt, kolonisiert und in weiten Teilen ausgerottet worden wären. Mit Rekurs auf die Texte afroamerikanischer Freiheitsikonen wie Martin Luther King oder Nina Simone verwandelt er den US-amerikanischen Pavillon mit einer Reihe neuer und aktueller Arbeiten spielerisch in ein buntes, queer-indigenes Luftschloss.
2. Die Ausbeutung rückgängig machen (Niederlande)
Konkretem antikolonialen Handeln mit direktem Bezug geben die Niederlande in ihrem Pavillon Raum. Das Künstlerkollektiv „Cercle d’art des travailleurs de plantation congolaise“ (CATPC), bestehend aus kongolesischen Plantagenarbeiter:innen, hat seinen Sitz in Lusanga im Herzen der Demokratischen Republik Kongo auf einer Plantage, die früher dem britisch-niederländischen Konzern „Unilever“ gehörte. Das Kollektiv CATPC macht Unternehmen wie dieses für die Ausbeutung ihrer Wälder und Gesellschaften, die extreme Armut und die Zerstörung der Artenvielfalt verantwortlich. Seit 2014 erwirbt das Künstlerkollektiv durch den Verkauf von Kunstwerken im Ausland das Land ihrer Vorfahren zurück und etabliert dort artenreiche Agroforste.
Über dieses Sichtbarmachen der konkreten Zusammenhänge zwischen Zerstörung und dem Vorgehen ‚westlicher‘ Firmen sollen auch Kunstinstitutionen erkennen, dass ihre Gebäude und Programme oft von Unternehmen finanziert werden, die von Ausbeutung profitier(t)en. Unter dem Titel „The International Celebration of Blasphemy and The Sacred“ präsentiert CATPC eine Reihe neuer Skulpturen. Der niederländische Pavillon (Kuratoren: Hicham Khalidi und Renzo Martens) beeindruckt durch seine Verbindung mit einem konkreten Ansatz, die Verhältnisse direkt zu verändern. Wenn auch die Fixierung auf einzelne Unternehmen die Gefahr der zu hohen Eindeutigkeit birgt, ist es ein interessanter Versuch, die Ausbeutung von Bodenschätzen in demokratischere kulturelle Aneignung umzukehren.
3. Mit Schwanensee zum Regimewechsel (Österreich)
Ballett kann auch eine Weise des Widerstands sein. Das zeigt Österreich, das in seinem Pavillon auf Werke der Konzeptkünstlerin Anna Jermolaewa setzt. Die in Leningrad (UdSSR) geborene und seit 1989 in Wien lebende Künstlerin ist eine scharfsinnige Beobachterin. Mit ihrem Beitrag spannt sie einen Bogen von ihrer persönlichen Migrationserfahrung als politisch Geflüchtete bis hin zu Zeichen des gewaltfreien Widerstands gegen autoritäre Regime. In „Rehearsal for Swan Lake“, das in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Choreografin Oksana Serhejewa entstand, bezieht sich Jermolaewa auf eine Erinnerung aus ihrer Jugendzeit. In Zeiten politischer Unruhen, etwa nach dem Tod eines Staatschefs, ersetzte das sowjetische Fernsehen seine regulären Sendungen durch Tschaikowskis „Schwanensee“, das dann tagelang in einer Dauerschleife lief. Im kollektiven sowjetischen Gedächtnis wurde das berühmte Ballett so zur Chiffre für einen Machtwechsel. Jermolaewa und Serhejewa verwandeln das Ballett von einem Instrument der Zensur in eine Form des politischen Protests – hier proben die Tänzer:innen für einen Regimewechsel in Russland.
Im Innenhof künden sechs Telefonzellen aus dem österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen zudem von der oft hoffnungslosen Situation Asylsuchender in Europa. 1989 benutzte Jermolaewa so eine Telefonzelle, um ihrer Familie in Leningrad mitzuteilen, dass sie im Westen angekommen war.
4. Erlösung durch ein futuristisches Generationenschiff (Deutschland)
Die Ausstellungen im von Çağla Ilk kuratierten deutschen Pavillon, dessen faschistische Architektur Künstler:innen in den letzten Jahrzehnten immer wieder versucht haben, zu durchbrechen, sind gelungen. Die israelische Performance-Künstlerin Yael Bartana fordert mit der Ausstellung „Thresholds“ gemeinsam mit dem deutschen Theaterregisseur Ersan Mondtag dazu auf, Schwellen zu überschreiten und die Welt zu erneuern, indem sie die Besucher:innen in ferne Galaxien katapultiert. In einem Akt der Erlösung transportiert das Generationenschiff „Light to the Nations“ Menschen zu neuen Planeten. Verheißungsvoll steht es angesichts der menschengemachten Zerstörung des Planeten Erde im Dienst der Menschheit. In einem weiteren Raum des Pavillons geht es über eine Wendeltreppe bis zur Decke des Gebäudes in eine Art verstaubtes Museum. In dem „Monument eines Unbekannten“ werden Arbeitsutensilien und Zeugnisse von Ersan Mondtags an einer schweren Lungenerkrankung verstorbenen Großvaters gezeigt. In den bis ins Detail nachgebauten Räumen seiner Wohnung erschließt sich die Biografie des ehemaligen türkischen Gastarbeiters in Westberlin der 1660er. Hasan Aygün hatte in Berlin 25 Jahre bei der Firma Eternit gearbeitet und dabei Asbeststaub eingeatmet. Das Gedicht „Requiem für einen Asbestarbeiter“ von Albert Ostermaier bildet den Auftakt des Rundgangs.
5. Kriegstraumata im Karaoke-Format (Polen)
Beklemmend beeindruckt der polnische Pavillon, kuratiert von Marta Czyz und bespielt von einem Kollektiv (Yuriy Biley, Pavlo Kovach, Anton Varga). In den beiden Filmen „Repeat after me II“, die zwischen 2022 und 2024 gedreht wurden, sind im Karaoke-Format Stimmen von aus der Ukraine Geflüchteten und vom Krieg traumatisierten Zivilisten zuhören, die die Geräusche der Bomben und Angriffsflieger nachmachen und das Publikum dazu animieren, die Geräusche an Mikrofonen zu imitieren. Das ist irritierend gut, ruft den russischen Angriffskrieg im Pavillon wach und macht diesen für die Besucher:innen erlebbar.
6. Die Säulen des Wohlstands eines Zwergstaates (Schweiz)
Im Schweizer Pavillon geht es unter dem Titel „Super Superior Civilizations“ selbstironisch zu. Der schweizerisch-brasilianische Künstler Guerreiro do Divino Amor fährt im ersten Teil seiner multimedialen Installation „Miracle of Helvetia“ sämtliche Klischees des wohlhabenden Kleinstaates auf, um den Chauvinismus und das Spießbürgertum seiner Landsleute vorzuführen: Casino, Kühe, Heidi. Die Zuschauer:innen blicken in eine gigantische Kuppel und drehen sich im Kreis zur ironisch verfremdeten Schweizer Geschichte. Im zweiten Teil seiner Installation performt die brasilianische Künstlerin Ventura Profana.
7. Zen wie in einem Techno-Club (Ungarn)
Im ungarischen Pavillon bekommt man gute Laune. Márton Nemes ist ein innovativer Vertreter der jungen Malergeneration, der mit einer Neuinterpretation des Bildes im 21. Jahrhundert experimentiert. Mit „Techno Zen“ hat er ein multimediales, multisensorisches Gesamtkunstwerk entworfen, das auf den Traditionen der abstrakten Malerei und auf zeitgenössischen Erfahrungen wie der Techno-Subkultur und der digitalen Bildgebung aufbaut. Seine Ausstellung ist multisensorisch: Ihr visueller, akustischer und interaktiver Inhalt entfaltet sich durch die kombinierte Wirkung von Licht und Farbe, Objekt- und Lichtbewegung, Klang, Lichtfrequenz und Luftstrom. So können die Besucher:innen in die schrillen Farben und Beats eintauchen wie in einen Techno-Club.
Zur Ausstellung
Die 60. Kunstbiennale ist noch bis zum 24. November 2024 in Venedig zu sehen. Weitere Informationen unter: https://www.labiennale.org/en.
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